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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens
Autoren: Andrea Levy
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Bauernburschen
siehst, die unten die Felder pflügen, und mit den Augen der Baumreihe folgst, die sich durch ein trüb-düsteres London bis zur St Paul’s Cathedral zu erstrecken scheint.
    Er will, dass du mit ihm zum Landgut Crouch Hall schlenderst, um geruhsam im Park spazieren zu gehen, das Wildgeflügel zu beobachten, das auf der Insel mitten im großen See nistet, und unter einer Trauerweide zu sitzen, wo das Wasser unter einer Brücke hindurchfließt und schäumend zehn Meter in die Tiefe stürzt; oder er will, dass du das Eis auf dem Bach Cholmeley zerhackst, um die Enten zu befreien, die auf seiner gefrorenen Oberfläche schlittern.
    Und du wirst zuschauen, wie er sich mit dem Schläger John Smith prügelt, wirst spüren, wie er dessen grimassierendes Gesicht in den vereisten Schnee drückt, weil er Thomas Kinsman einen Wilden genannt hat; und das Blut, das John Smith aus der Nase schießt, wird den weißen Schnee wieder einmal in roten Matsch verwandeln.
    Und dann wird Thomas Kinsman sehen, wie du erstaunt den Mund aufsperrst und stehen bleibst, weil am Rande vom St-Mary’s-Kirchhof Jacob Walker, auf einen frisch angespitzten Stock gestützt, ins Blickfeld zockelt. Denn hier, in diesem kleinen englischen Dorf, gibt es noch einen Neger. Du wirst Zeuge sein, wie ein spindeldürrer schwarzer Mann aus Amerika mit grauem Haar und tiefer, schleppender Stimme, der Diener einer Missus in Highgate war, einem dankbaren und aufgeregten Thomas ein Geschenk überreicht: das erste der vielen Penny Magazines, die er seinem »kleinen Niggerbruder« gab, wann immer er ihm begegnete.
    Und zweifle nicht daran, dass Thomas Kinsman Freude daran hätte, dich durch jede Seite jeder Ausgabe jedes Penny Magazines zu geleiten, die er gelesen hat, damit du die Kupferstiche von Goodrich Castle oder Highgate Church bewunderst oder dich in Artikel über Lava als Dünger oder die Verwendung von Ziegen als Säugammen vertiefst.

    Aber du musst dich eine Weile ausruhen, denn wenn Thomas Kinsman dich erst einmal auf die Reise durch seine Schulzeit auf der Crouch End Academy mitnimmt und von seinem Unterricht in Geschichte, Geografie, Mathematik, Griechisch, Lateinisch und Französisch erzählt, wird er all deine Aufmerksamkeit beanspruchen. Vielleicht erbietet er sich ja sogar, dir einige lateinische Verben vorzukonjugieren, aber ein Zuhörer täte klug daran, sein Ansinnen höflich auszuschlagen; sei dankbar, dass seine Schulbücher auf der Rückreise nach Jamaika verloren gingen, denn er würde dich zwingen, jedes von ihnen durchzulesen.
    Alle diese Vorkommnisse würde Thomas Kinsman einem Zuhörer bereitwillig anvertrauen; doch so richtig beginnt die Geschichte seines Lebens in England erst, als der scharfäugige Negerjunge – mittlerweise vierzehn, mit Schultern, die endlich breiter wurden, mit Haaren, die in Körpergegenden sprießen wollten, wo noch nie welche zu sehen gewesen waren, mit einer Stimme, die endlich brechen wollte – bei einem Drucker in der Nähe der Fleet Street in die Lehre ging. James Kinsman unterzeichnete einen Vertrag, mit dem Thomas für sieben Jahre verpflichtet wurde, sich von einem gewissen Mr Linus Gray im Druckereigewerbe nicht nur ausbilden zu lassen, sondern für die Dauer seiner Lehrzeit auch in dessen Haushalt zu logieren.
    Denn Thomas konnte nicht länger in der Obhut der Kinsmans bleiben, da sie alle der Alkohol aus Crouch End vertrieben hatte. James Kinsman hatte erklärt, in einem Dorf, in dem das Biergeschäft und die Wirtshäuser eine größere Gemeinde anlockten als der sonntägliche Gottesdienst und in dem die erste Familie am Ort schamlos mit dem Brennen von Gin zu Prominenz gelangte, nicht länger als Pfarrer tätig sein zu können.
    Als James Kinsman darum kämpfte, sämtliche Trinkhöhlen von Hornsey schließen zu lassen, damit die Arbeiterklasse ihrer Arbeit mit klarerem Kopf nachgehen könne, hatte sich
vor seinem Haus in der Maynard Street eine ruppige, ausfällige Menschenmenge versammelt, die auf Bratpfannen, Töpfe, Kessel, Bretter, Schürhaken und Schaufeln eintrommelte und verlangte, dass die Familie den Ort verließ. Und obwohl James Kinsman Hornsey verlassen musste, um sein neues Pfarramt in Lewes in der Grafschaft Sussex anzutreten, ist die gelehrte, detaillierte und sehr ausführliche Streitschrift, die er über die randalierenden Trunkenbolde von Crouch End verfasste, bis auf den heutigen Tag nicht veröffentlicht worden.
    Doch Thomas Kinsmans schwarze Augen werden sich nicht
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