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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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aus dem Weg zu gehen. Tags darauf klopft Großvater an die Tür und bringtaußer einer Entschuldigung Blumen. Großmutter akzeptiert zwar die Blumen, nicht aber die Entschuldigung, und fordert ihn auf,
     sich doch lieber an den Tisch zu setzen, wo ihn eines seiner Lieblingsgerichte erwartet. An solchen Abenden gehe ich zeitig
     nach oben in mein Zimmer, um sie ein wenig allein zu lassen, und in der Nacht kann ich durch die Trennwand hindurch hören,
     wie ihr Bett knarrt. Ich weiß, dass schon bald erneute Vorwürfe zu hören sein werden, aber vorerst herrscht Waffenstillstand.
     Eine Weile, vielleicht ein paar Tage lang, werden sie sich trotz aller Marotten lieben, und in den stillen Winkeln des Hauses
     werden Verse aus dem Hohelied Salomos geflüstert werden.
     
    *
     
    Meine Versetzung ist anscheinend ernsthaft in Gefahr. Meine Großeltern wollen mich in der Dorfschule anmelden. Ich habe nichts
     dagegen. Eigentlich ist es mir egal; ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich meinem Schmerz hinzugeben, um mich für derlei
     Nichtigkeiten zu interessieren. Ich schmore in einem unheilvollen Saft vor mich hin. Ich bemühe mich zwar, stark zu sein,
     aber diese finsterste Stunde meiner beschädigten Existenz will offenbar kein Ende nehmen. Der Auftrag, zu leben, lässt mich
     kalt. Am liebsten würde ich ebenfalls schlafen und in Frieden ruhen, aber selbst das ist mir verwehrt, denn ich werde in der
     Nacht unentwegt von den schlimmsten Albträumen heimgesucht.
    Ich träume von diesem Ort, vierundfünfzig Kilometer nördlich von hier. In meinem Traum ist es ein sich ständig verändernder
     Irrgarten mit Wänden aus nächtlichen Böen, ein Labyrinth mit einem Boden aus sich überlappenden funkelnden Gleisen, aus dem
     ich, halb erfroren, verzweifelt einen Ausweg suche. Am schlimmsten ist dieses Etwas, das ich durch die angrenzenden Gänge
     streifen höre. Dieses hupende urzeitliche Wesen, das ebenfalls auf der Suche ist. Ich laufe weiter, weil mir nichts anderes
     übrig bleibt, vergehe jedoch vor Angst bei der Vorstellung, ich könne ins Blickfeld der Bestie geraten. Ich flüchte, in der
     Hoffnung, die Schale des Traums zu sprengen, und schrecke schließlich verängstigt in meinem Bett hoch, in dem Glauben, das
     Ungeheuer noch immer vor meinem Fenster schnauben zu hören, zu spüren, wie das ganze Haus bei seinem Herannahen bebt. Dann
     ist da nur noch mein Bett und schließlich bin nur noch ich da.
    So ist es jede Nacht. Ich habe abartige Träume. Dagegen hilft nur, den Schlaf auszutricksen. Anstatt mich dem Minotaurus von
     Kilometer 54 zu stellen, flüchte ich lieber in meine Bücher und breche sämtliche Leserekorde. Meine Schlaflosigkeit ist freiwilliger
     Natur, und nicht selten gehe ich aus diesem Zweikampf, den die Nacht und ich miteinander austragen, als Sieger hervor. Das
     erste Tageslicht ist meine Belohnung, die Morgendämmerung meine vergängliche Trophäe.

4
    Damit ich den Unterricht nicht zu lange verpasse, haben mich meine Großeltern schließlich in die Schule geschickt. Zwar ist
     mir der Sinn des Ganzen ein Rätsel, da der Mai sich allmählich dem Ende neigt, doch habe ich mich ihnen zuliebe darauf eingelassen.
     Bestimmt wollen sie, dass ich nicht nur zu Hause herumhänge und auch wieder mit Gleichaltrigen Kontakt habe, um auf andere,
     weniger düstere Gedanken zu kommen. Beruhigen wir sie: Tun wir doch einfach so, als würde sich alles normalisieren.
     
    *
     
    In der sechsten Klasse gab es nur ein einziges freies Pult, ganz hinten, nah an der Heizung und mit Blick aufs Meer, neben
     Luc Bezeau. So sind wir aufgrund der räumlichen Gegebenheiten in der Schule schließlich zu Nachbarn, ja beinahe zu Verwandten
     geworden. Das ist allerdings nur so dahingesagt, denn Luc reagierte auf meine Ankunft mit absoluter Gleichgültigkeit. Ich
     für mein Teil ergebe mich in mein Schicksal und begnüge mich damit, den lieben langen Tag sein Profil eines ausgeraubten Engels
     zu betrachten. Diesen weggetretenen Ausdruck. Dieses bugförmige Gesicht, das von seinen Augen durchlöchert wird wie von stumpf
     gewordenen Bohrern. Unter den rotbackigen, mit Vitaminen vollgestopften jungen Wikingern, die die Schule bevölkern, fällt
     er zweifellos auf. Außerdem verströmt er diesen Duft von liegen gelassenem Kabeljau. Ich hoffe, er kommt nicht plötzlich auf
     die Idee, seine Stiefel auszuziehen   …
     
    *
     
    Luc ist auf seine Weise ein Musterschüler. Er wahrt stets eine olympische Gelassenheit; er ist
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