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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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verzichten; schließlich hatten sie sich die ganze Woche darauf gefreut.
     Und als der Motor ihrer Polaris widerstandslos ansprang, verschwanden sie kurz darauf im Schneetreiben. Sie hatten versprochen,
     bei Einbruch der Dämmerung zurück zu sein, doch die Sonne sank und ging schließlich unter, ohne auf sie zu warten. Das Abendessen
     wurde kalt auf unseren Tellern, während wir einander am Fenster ablösten, um im aufziehenden Unwetter Ausschau nach ihnen
     zu halten. Endlich, gegen dreiundzwanzig Uhr, erleuchteten Scheinwerfer den Hof, nur waren es die eines Polizeiautos, und
     zwei bekümmerte Polizisten betraten das von Verzweiflung erfüllte Wohnzimmer und überbrachten uns die entsetzliche Nachricht:
     Irgendwo in der Finsternis, vierundfünfzig Kilometer nördlich von Ferland, steckte der aus Pineshish in den Monts de Fer kommende
     Güterzug mit seinen zweihundert Waggons voller Eisenerz mitten im Chaos fest. Und im Umkreis der Gleise waren überall die
     sterblichen Überreste meines Vaters und seiner gewaltigen Maschine verstreut. Mama hatte man erst nach einer Stunde gefunden.
     Sie war im Moment des Zusammenstoßes abgeworfen und in eine Schneeverwehung neben der Trasse geschleudert worden. Als man
     sie in den Helikopter transportiert hatte, war sie beinah zu Eis gefroren gewesen. Erst im Krankenhaus hatte man festgestellt,
     dass sie noch atmete. Ihr Zustand wurde als kritisch bezeichnet: Brüche, Gehirnerschütterung, hochgradigeUnterkühlung. Man wusste nicht, ob sie überleben würde.
    Man konnte sich nur schwer vorstellen, was passiert war. Der Zug hatte meine Eltern erfasst, als sie nichts ahnend die Gleise
     entlanggefahren waren. Sie hatten das Hupen bestimmt wegen der Helme nicht gehört, hatten wahrscheinlich wegen des Blizzards
     nichts auf sich zukommen sehen. Unachtsamkeit, Leichtsinn, Selbstüberschätzung und andere Fahrlässigkeiten. Die Art von Situation,
     die eigentlich nie eintreten dürfte, aber trotzdem eintritt, nur um Leid zu verursachen. Eine statistische Unerheblichkeit.
     Oder eher, meiner Meinung nach, das eklatante Unvermögen von dem da oben. Ein Zeichen für seine Gleichgültigkeit und demnach
     für seine Grausamkeit. Hallo, du da oben auf deiner Wolke! Hast du’s voll ausgekostet, himmlischer Psychopath? Hast dir schön
     ins Fäustchen gelacht? Aber was rede ich da: Die Wolke ist bestimmt nicht besetzt und Gott am Ende nur eine überholte Wunschvorstellung.
    Erst in der Trauerhalle, vor dem geschlossenen Sarg, hat man gewagt, mir das letzte und schlimmste Detail zu eröffnen. Ich
     stand mit gebrochenem Herzen vor dem heimtückisch glänzenden Kasten, der die sterblichen Überreste meines Vaters barg, und
     rebellierte. Ich wollte mir nicht verbieten lassen, ein letztes Mal sein Gesicht zu sehen. Ich verlangte, dass man den Deckel
     abschraube. Großvater führte mich in den Vorraum und erklärte mir, warum das nicht möglich sei: Papas Leichnam sei nurteilweise wiedergefunden worden. Neben weiteren anatomischen Unvollkommenheiten fehlte sein Kopf, der von hundert stählernen
     Rädern zermalmt worden war. Ich erinnere mich daran, wie mir plötzlich schwindelig wurde und das Blut in meinen Adern gefror,
     trotz der Heizkörper, die voll aufgedreht waren. Das Letzte, an das ich mich noch erinnere, bevor ich zu Boden sank und mir
     schwarz vor Augen wurde, war die leise Musik. Diese verdammte Kantate, die durch den Weihrauchdunst schwebte. Das hatte gereicht,
     um mir Bach für den Rest meines Lebens zu verleiden.
    Schneemobilitis war demnach eine Krankheit, die tödlich sein konnte. Ich hatte gehört, dass auch die Leidenschaft so sei,
     sie bewirke, dass man den Kopf verliere. Jetzt hatte ich den Beweis dafür.

3
    Wenigstens ist Mama nicht tot. Sie ist noch am Leben, obwohl ihr Kopf so heftig gegen den Zug geprallt ist, aber sie ruht
     in einer Arktis, ferner noch als der Pol. Sogar jenseits der Träume, sagen die Götter in Weiß. Mehr können sie nicht sagen;
     meine Mutter übersteigt den Horizont ihrer Diplome.
    Tag für Tag besuchen wir sie im Krankenhaus von Villeneuve und sehen ihr beim Schlafen zu, wobei ich mich lange über ihr Elfengesicht
     beuge. Ihre Stirn, dieses unberührte Schneefeld. Mama, dieser Teich in Nelligan im Februar. Auf den Monitoren um sie herum
     ist es allzu still. Mama blinzelt. Mama zuckt. Mama atmet, ohne dassBewegung in die EE G-Kurve kommt. Sie schläft, mit unserer Welt einzig und allein über diesen Schlauch verbunden, der sie
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