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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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ernährt. Nur mit Flüssigkeit,
     wie eine Pflanze. Mama ist eine dieser Blumen, die in einen Schrank gestellt, in einen künstlichen Winterschlaf versetzt werden.
     Hier gibt es wenigstens viel Licht. Das Zimmer liegt im dritten Stock und durch das Fenster sieht man die Inseln in der Bucht
     treiben.
    Die Ärzte behaupten, sie würde nichts hören, aber wir sprechen trotzdem mit ihr. Großmutter plaudert mit ihr und malt sich
     ihre Antworten aus. Sie erzählt ihr den Dorfklatsch und strickt dabei tonnenweise Fausthandschuhe, während ich Mamas Haar
     bürste. Und wenn Großmutter den Raum verlässt, um ihrer Freundin Armande auf der Langzeitpflegestation einen Besuch abzustatten,
     kann ich mich Mama endlich auf meine Weise widmen. Ich lege mich neben sie und reibe ihre kalten Gliedmaßen. Sie ist wie eine
     bewegliche Statue. Ich lege ihre eisigen Hände unter meinem Pullover direkt auf meine Haut, um sie besser wärmen zu können.
     Ich weine nie; ich habe zu große Angst, sie könnte mich hören und wäre deswegen traurig. Meine Tränen hebe ich mir für die
     Nacht auf.
    Man weiß nicht, wann sie zu uns zurückkehren wird oder ob sie überhaupt je wieder aufwachen wird, aber ich glaube fest daran.
     Ich weiß, dass sie mich nicht verlassen wird.
     
    *
     
    Meine Großeltern haben mir im oberen Stockwerk ein Zimmer eingerichtet, und damit sie sich keine Sorgen um mich machen, zwinge
     ich mich zu einem Lächeln. Nach Villeneuve mit seinen Supermärkten, Verkehrsampeln und seinem Hafen, der Erzfrachter aus aller
     Herren Länder magnetisch anzieht, kam es mir seltsam vor, in Ferland zu leben. Es ist eine ganz eigene Welt, ein magisches
     Kaff, in dem die Leute sich gern die Mäuler zerreißen. Die Geschichte des Dorfes ist in gewisser Weise auch die meine, denn
     mein Ururururgroßvater hatte vor zweihundert Jahren die ausgefallene Idee, es zu gründen. Übrigens trägt die einzige Straße
     meinen Namen; sie erstreckt sich über zehn Kilometer und verbindet die dreihundert Häuser, die im Laufe der Jahre zwischen
     Pointe Rouge und Les Gigots aus dem Boden geschossen sind, miteinander. Der Fluss Uapush fließt durch den Dorfkern, und an
     seiner Mündung, etwas zurückgesetzt auf der Landzunge, steht das rot-weiße Haus, in dem meine Mutter aufwuchs und das nun
     eine Zeit lang auch mein Zuhause sein wird. Ferland, das ist das Meer. Auf der Karte ist es zwar nach wie vor der Golf, aber
     nur bei extrem klarer Sicht lässt sich das bläuliche Trugbild des südlichen Ufers erahnen. Es ist eine Kreuzung, an der die
     Elemente einander begegnen, ein natürlicher Schmelztiegel, in dem Wind, Wald und Wellen sich miteinander vereinen. Ferland
     schwankt zwischen Stille und Geheul, zwischen Affenhitze und Eiseskälte; es ist ein Land, in dem ältere Götter umherstreifen
     als der da oben, ein Schlupfwinkel für imaginäreFreibeuter und Waldriesen, eine vibrierende Parabel für die Erschaffung der Welt, eine Enklave, in der die Geschichtenerzähler
     besser sind als im Fernsehen. Im Winter ist die Bucht eine Kältewüste, eine Mondlandschaft, die sich dank der Beherztheit
     eines staatlichen Eisbrechers gelegentlich belebt, doch zu guter Letzt setzt sich immer wieder der Frühling durch, und im
     Sommer ist sie ein transplantiertes Stück Skandinavien, ein von Strandhafer gesäumtes Ufer aus fahlrotem Sand, eine Theorie
     aus langhaarigen Dünen. Ferland ist eine Sternennacht, und wenn eine leise Brise von Süden her über das Meer streicht, das
     wie ein dunkler Edelstein funkelt, ist es ein lebendiger Spiegel im milchigen Schein des Mondes.
     
    *
     
    Meine Großeltern sind ein sonderbares Paar. Er sieht aus wie eine Bohnenstange, neben der selbst eine Vogelscheuche elegant
     wirkt, während sie, winzig und vor Geist sprühend, immer wie aus dem Ei gepellt zu sein scheint. Als Sohn eines echten Postbediensteten
     Ihrer Fernen Königlichen Hoheit, mit Schlitten, Hunden und üppigem, raureifbedecktem Bart, stand Großvater in seiner Jugend
     höchstpersönlich in den Diensten der Königin; er war der Telegrafist des Dorfes. Noch heute betreibt er in einem an das Haus
     angrenzenden Büro die örtliche Poststelle und räuchert in seiner Freizeit einen legendären Lachs mit süßem, aromatischem Fleisch,
     so zart wie das einer exotischen Frucht. Großvater erzählt gern Gruselgeschichten.Wenn wir abends am Ufer ein Feuer machen, gibt er lauter schaurige Lügenmärchen und andere vorgeblich wahre Geschichten zum
    
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