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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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ein Meister der Stille. Weder
     stört er den Unterricht noch schwatzt er. Vielmehr öffnet er nie den Mund, und die Lehrerin hütet sich, ihm eine Frage zu
     stellen, als wüsste sie, dass er ihr ohnehin nicht antworten würde. Zwischen ihnen besteht so etwas wie eine von Ursache und
     Wirkung bestimmte Beziehung, nur im umgekehrten Sinn. Luc sucht erst gar nicht nach Entschuldigungen, sondern lebt in seiner
     Seifenblase,ohne irgendjemanden zu stören. Er hockt regungslos auf seinem Stuhl und blickt unverwandt durchs Fenster auf das Meer oder
     starrt auf seinen Radiergummi, als wolle er ihn zum Schweben bringen. In der übrigen Zeit zeichnet er und beweist dabei Talent.
     Die Seitenränder seiner Hefte sind mit lauter gelungenen Darstellungen von Fischen und Eidechsen übersät. Manchmal kritzelt
     er auch Gedichtfragmente in einem seltsamen Alphabet, das er sich möglicherweise ausgedacht hat. Es ist nicht zu entziffern,
     ergibt aber höchstwahrscheinlich einen Sinn, denn man muss nur mal sehen, wie hingebungsvoll er mit der Zunge zwischen den
     Lippen an seinen sinnlosen Haikus herumfeilt. Bestimmt verbirgt sich hinter diesem Panzer und so befremdlichen Äußeren ein
     reger Geist. Jedenfalls scheint es ihm nicht an Intelligenz zu mangeln, denn obwohl er häufig fehlt, gehören seine Noten zu
     den besten. Er liest viel: In der Bücherei sucht er sich dicke Bände aus, naturwissenschaftliche Wälzer, dem Lehrplan weit
     voraus, vor allem welche über Meeresbiologie.
     
    *
     
    Ich habe den Versuch aufgegeben, den Canyon des Misstrauens zwischen unseren Pulten zu überbrücken, kann aber nach wie vor
     nicht den Blick von ihm abwenden. Es ist stärker als ich; ich studiere mit der Neugier eines Insektenkundlers seinen schrägen
     Schädel und frage mich, was für Gedanken wohl darin gären mögen. Doch Luc ist und bleibt so rätselhaft wie seine Gedichte.
     Er weichtmeinem Blick aus. Er verbannt mich aus seinem Blickfeld. Ich sollte seinem Beispiel folgen und mich eher für das interessieren,
     was an der Tafel geschieht, aber die Hartnäckigkeit, mit der er meine Existenz negiert, nimmt allmählich provozierende Züge
     an, eine Herausforderung, auf die man doch schließlich reagieren muss, eine Frage des Stolzes, der Selbstbehauptung, und aus
     Rache belagere ich ihn. Mich beruhigt in gewisser Weise, dass seine ablehnende Haltung nicht mir allein gilt. Die Distanz
     zwischen ihm und mir ist nicht etwa galaktischer als diejenige, die er der gesamten Menschheit gegenüber wahrt. Luc verhält
     sich so, als sei nichts und niemand wirklich von Bedeutung, als sei er der einzige reale Bewohner eines virtuellen Universums.
     In den Pausen hält er sich abseits und zeichnet mit der Fußspitze Arabesken und mystische Kreise in den Kies. Es ist, glaube
     ich, eine Art mentale oder auch nur gespielte Krankheit, die als Misanthropie bezeichnet wird. Ich weiß nicht, ob sie genetisch
     bedingt ist oder daher rührt, dass er von Anfang an abgelehnt worden ist, oder ob Luc selbst beschlossen hat, sich von der
     Jugend Ferlands fernzuhalten, jedenfalls gibt es in der ganzen Schule bestimmt niemanden, der weniger beliebt ist. Keiner
     würde je auf die Idee kommen, ihn zu seiner Geburtstagsparty einzuladen, und er würde sowieso nicht hingehen. Ein freiwilliger
     Schiffbrüchiger, ein einsamer Seefahrer, das ist er.
     
    *
     
    Die Zyklopen allerdings suchen den Kontakt zu Luc, dabei könnte er auf ihre Gesellschaft am ehesten verzichten. Die Zyklopen
     sind ein Haufen Verrückter, die auf Benzindämpfe und Heavy Metal stehen. Ihr Boss ist Réjean Canuel, ein hünenhafter Rocker
     in Klamotten mit lauter Totenköpfen und Hakenkreuzen, der die sechste Klasse wiederholt und damit prahlt, einen Onkel zu haben,
     der im Gefängnis von Port-Cartier einsitzt. Der Anführer macht sich ein sadistisches Vergnügen daraus, die jungen Leute von
     den Stränden zu verjagen, wobei Luc in den Genuss seiner speziellen Aufmerksamkeit kommt. Canuel hat ihn wegen des orientalischen
     Schnitts seiner Augen »den Mongolen« getauft und zu seinem Prügelknaben auserkoren, mit dem man nach Belieben umspringt. Es
     vergeht kein Tag, an dem Luc das nicht zu spüren bekommt: Sie werfen seine Mütze ins Klo, verstecken alten Fisch in seinem
     Fach, leeren seine Mappe in die Mülltonne. Es kursieren Legenden über die ihm von den Zyklopen zugefügten Schikanen: So ist
     die Rede von einem Fläschchen mit Abführmittel, das zu trinken man ihn gezwungen
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