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Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans
Autoren: dtv
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hat, und von einem ganzen Tag, den er im
     Abfallcontainer der Schule eingesperrt verbracht haben soll. Es heißt, Canuels Lieblingssport sei es, ihn im Winter splitternackt
     auszuziehen und bis nach Hause zu jagen. Solche Gerüchte sind bestimmt zum Teil übertrieben, aber man braucht nur die arische
     Begeisterung zu sehen, mit der sie Luc nachstellen, um alles noch so unwahrscheinlich klingende Gerede zu glauben.
    Luc nimmt alles gelassen hin, als sei es völlig normal. Seine Strategie besteht darin, einfach nicht zu reagieren. Nie macht
     er sich aus dem Staub oder begeht den Fehler, sich zu verteidigen. Man hört ihn nie um Gnade flehen oder sich beklagen. Wenn
     ihm ein Bein gestellt wird, steht er einfach auf und geht seines Weges. Wenn er in einen Mülleimer gesteckt wird, wartet er
     ab, bis das Gelächter seiner Peiniger verebbt, um sich dann schweigend aus den Abfällen zu befreien. Wenn sie etwas zu heftig
     auf ihn einschlagen, funkeln seine Augen und seine Hände ballen sich zu Fäusten, ohne dass das Feuer je um sich greifen oder
     zu einer Explosion führen würde. Sein Stoizismus ist beachtlich, allerdings hat dieser den großen Nachteil, dass er Canuel
     provoziert und in seiner Hinterhältigkeit nur noch anstachelt. In dem friedfertigen und zugleich hartnäckigen Widerstand,
     mit dem Luc ihm begegnet, wittert der junge Gockel bloße Arroganz, womit er vielleicht nicht ganz unrecht hat. Jedenfalls
     hat er geschworen, seinen Sündenbock noch vor Ende des Schuljahres kleinzukriegen. Luc wimmernd am Boden zu sehen, ist sein
     öffentlich bekundeter Wunsch. Es ist für ihn eine Frage der Ehre, und man kann sich kaum vorstellen, dass Luc ihm lange standhalten
     wird, dennoch käme niemand je auf die Idee, sich einzumischen. Das ist nur allzu verständlich: Wer würde wegen eines hässlichen
     Kerls wie ihm schon Kopf und Kragen riskieren? Lieber gewöhnt man sich an den Anblick seiner Qual. Man gibt vor, einem Experiment
     beizuwohnen, in dem es darum geht, beimgemeinen Mongolen die Grenzen der Belastbarkeit in Sachen Erniedrigung auszuloten.
    Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Und ich hatte schon gedacht, der einzige Pechvogel zu sein. Ich hielt es für unmöglich,
     unter einem ungünstigeren Stern als dem meinen geboren zu sein, was jedoch nicht stimmt; Luc ist der vorläufig lebende Beweis
     dafür. Ich wüsste zu gern, wie sich diese scheußliche Corrida beenden ließe, bin aber keinen Deut besser als die anderen:
     zögerlich, ängstlich, zu sehr darauf bedacht, meine eigene Haut zu retten. Da mir der Mut fehlt, begnüge ich mich damit, das
     Ganze wie einen Konflikt auf fremdem Terrain zu verfolgen, während ich mich insgeheim schäme. Ich rede mir ein, die Existenz
     von Sündenböcken wie Luc in sämtlichen Schulen dieser Welt unterliege einem Naturgesetz, dem er sich wie wir alle notgedrungen
     unterwerfen müsse.

5
    Das Ende des Schuljahres naht, und unter denen, die auf die Zyklopen gewettet haben, regen sich erste Zweifel, denn Canuel
     scheint, obgleich er das gesamte Arsenal seiner Boshaftigkeit ins Spiel gebracht hat, außerstande zu sein, den Mongolen zur
     Strecke zu bringen. Luc widersteht ihm Tag für Tag wie ein kugelsicherer Roboter. Ich weiß nicht, wie er es anstellt. Vielleicht
     hat es etwas mit seinem Vater zu tun, der angeblich verrückt ist und ihm das Leben zur Hölle macht? Vielleicht trainiert er
     ja zu Hause? Tatsache ist, dass er einfach alles erduldet und Dinge mit sich machen lässt, die ihn eigentlich schon vor langer
     Zeit zu einem wimmernden menschlichen Wrack hätten machenmüssen. Er ist auf seine Weise bewundernswert. Es ist ein schöner Anblick, wie er, nur mit dem zerbrechlichen Schirm der Geduld
     ausgerüstet, jedem Bombardement standhält. Er erteilt uns allen eine gehörige Lektion. Das Beispiel seiner Tapferkeit verleitet
     mich dazu, meine Seele nach vergleichbaren Ressourcen zu durchsuchen, und dadurch wird etwas Abgründiges in mir geweckt, ein
     Verlangen nach Macht, ein gewisser Tatendrang, der Wunsch, ebenso stark und unbezähmbar zu sein wie er. Es ist doch merkwürdig:
     Wer hätte gedacht, dass der Mongole zu einer Inspirationsquelle werden könnte?
     
    *
     
    Ich weiß nicht, was mich schließlich dazu bewogen hat einzugreifen. Das Bedürfnis, meine moralische Schuld Luc gegenüber zu
     begleichen, weil ich meine neu erwachte Kraft offenbar ihm zu verdanken habe? Eine Anwandlung von Mitleid? Ein heroischer
     Spasmus? Todessehnsucht?
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