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Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)

Titel: Verschwundene Schätze: Roman (German Edition)
Autoren: Miklós Bánffy
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I.

    Die heutige Sitzung war sehr gut besucht. Der Saal des Parlaments hatte sich dicht gefüllt. Auch die Mitglieder der Regierung waren vollzählig erschienen. Der Tag freilich war von besonderer Art: Der Staatshaushaltsplan sollte vorgelegt werden, und dies in der Gewissheit, dass er Zustimmung finden würde. Ähnliches war seit 1903 nie mehr vorgekommen, man hatte die finanziellen Angelegenheiten des Landes auf der Grundlage von verlängerten Budgetplänen geführt oder – wie es um des Reimes willen im Küchenlatein heißt – in einem »Ex-lex«-Zustand. Jetzt, im Herbst 1906, wurde im Staatshaushalt die Ordnung endlich wiederhergestellt. Ein großes Verdienst der Koalitionsregierung.
    Pál Hoitsy, der Referent, betrat die Rednertribüne. Sein schöner, ergrauter Kopf mit dem kurzgeschnittenen Kaiserbart nahm sich vor dem Eichensockel des Präsidialsitzes gut aus. In Quersätzen würdigte er die feierliche Stunde, die segensreiche, neu hergestellte Harmonie zwischen dem König und der Nation 1 .
    Nur einige Übereifrige ließen sich mit mageren Hochrufen vernehmen. Das Haus blieb still. Alle Parteien schwiegen ernst, nicht nur die Gruppe der Nationalitäten, die auf den oberen Bänken der rechten Mitte saß, dicht um ihren Vorsitzenden, den Serben Mihail Polit; dieser sollte, wie man wusste, einen Entschließungsantrag vorlegen. Man schwieg, denn an diesem gleichen Morgen des 22. November war im Wiener Fremdenblatt ein Artikel erschienen, welcher der hier beschworenen großen Harmonie widersprach. Der Artikel bezog sich auf einen Vorstoß von vor zwei Tagen, den die juristische Kommission formuliert hatte, und dem – so hatte man geglaubt – die Kammer heute den höheren Rang eines Landesbeschlusses verleihen würde. Eine heikle, eine unangenehme Angelegenheit.
    Begonnen hatte sie damit, dass ein Abgeordneter der Volkspartei zwei Tage zuvor den Antrag einreichte, das abgetretene Kabinett Fejérváry unter Anklage zu stellen. Die Regierung konnte nun der Behandlung des Vorschlags nicht mehr ausweichen, wie sie es im Juli bei der Debatte über die Adresse an den Herrscher mit ähnlichen schriftlichen Eingaben der Komitate 2 und der Städte getan hatte. Sie konnte dies umso weniger, als der Antragsteller zu Rakovszkys enger Umgebung gehörte. Man vermutete folglich, dass dieser hinter der Angelegenheit stehe, und in Ferenc Kossuths 3 Lager munkelte man über einen meuchlerischen Angriff, von bösen Kabalen und einer Absicht, die Zusammenarbeit der verbündeten Parteien zu sprengen. »Und ihr Angriff richtet sich gerade gegen den empfindlichsten Punkt!« Alle wussten nämlich, und Rakovszky selber gewiss am besten, dass eine der Bedingungen des Regierungswechsels darin bestand, den Mitgliedern des vorangegangenen Kabinetts Unversehrtheit zuzusichern. Die Anführer der Koalitionsparteien hatten sich gegenüber dem König hierzu verpflichtet. In die Öffentlichkeit gedrungen war dies nicht, und als im Sommer László Vörös, der Handelsminister der sogenannten Trabanten-Regierung 4 , den Schleier über dem Pakt 5 lüftete, bestritten die halboffiziellen Blätter seine Behauptungen, wiewohl sie dies mit leicht unsicheren Formulierungen taten. Jetzt aber, da die Volkspartei so provozierend auftrat, musste man sich der Angelegenheit stellen und eine Lösung finden, die der ungarisch-rebellischen öffentlichen Meinung zur Freude gereichte, die aber auch das enthielt, wofür man gegenüber dem König das eigene Wort verpfändet hatte.
    Dies gelang denn auch dank Ferenc Kossuths Auftritt. Er hatte in der Kommission seine ganze Autorität in die Waagschale geworfen. »Es gibt keinen Pakt, denn dieser wäre ja eine Verletzung der Verfassung«, erklärte er. Das war ein gefährlicher Satz. Es war ja bekannt, dass der Herrscher ihnen den Auftrag zur Regierungsbildung aufgrund umschriebener Punkte erteilt hatte, aber die Worte wirkten sehr gut, selbstbewusst und klangvoll. So erreichte er, dass die Kommission die Anklageerhebung verwarf und stattdessen eine ächtende Verlautbarung verabschiedete, laut der sie Fejérváry und seine Genossen »ungetreue Räte des Königs und der Nation« nannte und sie »dem niederschmetternden Urteil der Nation« überantwortete.
    Die Kommission verordnete sodann, den ganzen Text durch öffentliche Anschläge bekanntzumachen, sobald das Parlament ihn zum Landesbeschluss erklärt habe. Das war eine gute, eine ausgezeichnete Formel. Jedermann verließ die Kommissionssitzung befriedigt, die
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