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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe
Autoren: Daphne Unruh
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    Teil I
    Hätte ich gewusst, was für ein Tag heute vor mir lag, wäre ich im Bett geblieben, auch wenn das auf längere Sicht nichts an meinem Schicksal geändert hätte.
    Der Wecker klingelte. Ich schlug die Augen auf und blinzelte in das Morgenlicht. Ich hatte die Jalousien nicht heruntergezogen, um besser aufzuwachen. Der erste Schultag nach den Sommerferien war mühselig. Ich hatte vergessen wie die Welt früh um sieben aussah. Immer war die Luft kühler als all die Wochen davor. Immer zog gerade ein Schwarm Vögel über den rosa verfärbten Himmel. Immer klangen ihre Schreie nach Arbeit und Ernst des Lebens. Allerdings, diesmal würde es der letzte erste Schultag nach den Sommerferien sein. Ich war in der zwölften Klasse. Ein Ende abzusehen. Der Gedanke gab mir die nötige Energie, die Bettdecke zurück zu schlagen und aufzustehen.
    Ich zog mir meine schwarze Jeans und mein schwarzes Kapuzenshirt über, ging in mein Bad und rieb mir etwas Wasser ins Gesicht, schenkte mir ein Zahnputzglas davon ein und setzte mich auf meinen Balkon. Ich schaute hinüber zum alten Wasserturm. Mein Zimmer überragte ihn noch. Mir war es peinlich, in der größten Protzwohnung am Platz zu wohnen. Gleichzeitig war ich froh, hier oben meine Ruhe zu haben, selbst vor meinen Eltern, die die untere Etage bewohnten. Bestimmt saßen sie längst am Frühstückstisch und warteten auf mich. Meine Mutter, Delia, würde versuchen, mich für das Abschlussjahr zu ermuntern. Wahrscheinlich war ihr nicht klar, dass sie als jemand ohne Abitur, der den Tag mit Shoppingtouren oder Friseurterminen verbrachte, keinen überzeugenden Trost spenden konnte. Und mein Vater Gregor suchte garantiert in der Zeitung nach Nachrichten über sein Unternehmen H2Optimal als Mitglied der Berlinwasser Gruppe. Wenn alles gut ging, würde sein revolutionäres High-Tech-Wasseraufbereitungsverfahren nicht nur die Kläranlagen in Berlin, Deutschland oder Europa revolutionieren, sondern ihn bald zu den Multimilliardären des Planeten gehören lassen. Das war sein Ziel. Er kannte kein anderes Thema. H2Optimal stand kurz davor, mit der ersten neuen Kläranlage im Norden Berlins an den Start zu gehen. Wenn alles lief wie erwartet, würden sie eine Villa am Wannsee kaufen und der größte Traum meiner Mutter in Erfüllung gehen. Ich hoffte, dass ich vorher meine letzten 250 Schultage hinter mich bringen könnte, um mich an meinem achtzehnten Geburtstag, also am 1. Juli, auf und davon zu machen. Ich hatte ein paar Tage London mit meiner Freundin Luisa geplant. Meine Eltern ahnten nicht, dass ich danach nicht nach Hause kommen würde, um eine Au Pair–Stelle bei reichen Leuten in Amerika (Der Wunsch meiner Mutter) oder ein Jurastudium anzutreten (der Plan meines Vaters). Ich würde von Heathrow weiter reisen, vielleicht nach Asien Delphine retten, nach Indien Tee anbauen oder nach Afrika, um in die Entwicklungshilfe zu gehen. Ich wusste es noch nicht so genau. Nur, dass ich weg sein würde. Weit weg. Und etwas Sinnvolles tun würde, statt Dinge zu lernen, die man im Leben nie wieder brauchte und seine Tage mit Leuten zu verbringen, von denen man mindestens neunzig Prozent nicht mal kennen wollte. Ich würde nicht im Hosenanzug durch gestylte Büros stöckeln, sondern würde die Sprache der Eingeborenen studieren und den Ort in der Welt finden, wo ich hingehörte. Davon träumte ich und diese Tagträume hielten mich aufrecht.
    Von der Straße drangen die aufgeregten Stimmen kleiner Kinder herauf, die mit ihren Schulranzen bereits die Bürgersteige bevölkerten. Ich nahm ein paar Schluck Wasser und spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg. Ich sah die Gesichter meiner Klasse vor mir und presste die Lippen zusammen. Am liebsten wollte ich sofort abheben und mit den Vögeln eine Runde am Himmel drehen. Zwischen dem heutigen Tag und dem Beginn meines Lebens lagen jedoch diese 250 Tage. Immerhin, es gab Luisa, die ich den ganzen Sommer nicht gesehen hatte. Das tröstete mich ein wenig. Ich tat einen langen Seufzer, als würde mir jemand mitleidig zuhören und schaute auf die Uhr. Kurz vor acht, spät genug, um sich nicht mehr zu Delia und Gregor setzen zu müssen. Ich nahm meine Tasche und ging die Treppe hinunter.
     
    Durch die lange Glasfront, die den Treppenbereich von der amerikanischen Küche abtrennte, sah ich meine Eltern vor dem Panoramafenster sitzen. Sie waren wie ein Bild aus einer Hochglanzzeitschrift. Delia, das alternde, aber immer noch sehr gut aussehende Exmodel und
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