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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens
Autoren: Guy Gavriel Kay
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bittersten beklagt hatten: Es war Lisen, die niemals gestorben wäre, wenn sie nicht einen Sterblichen geliebt hätte und aus dem Schutz des Waldes nach draußen gezogen wäre.
    Diese Botschaft pflanzte sich fort: im wortlosen Rascheln der Zweige, im schattenhaften Flackern von halbgesehenen Formen, in der Vibration des Waldbodens, die so schnell war wie ein rasender Puls. In kürzester Zeit, wie es bei solchen Dingen ist, erreichte die Botschaft die Ohren der einzigen Macht unter all den Mächten des Waldes, die voll und ganz begriffen, worum es ging, hatte er doch viele der Welten des Webers kennen gelernt und eine Rolle in dieser Geschichte gespielt, als gerade erst ihre Anfänge gesponnen wurden. Er überlegte, ruhig und ohne Eile … obwohl sein Blut bei dieser Nachricht aufwallte und alte Wünsche erwachten … Und durch das Blatt und den schnellen braunen Boten und den Puls, der sich durch die Wurzeln der Bäume zog, schickte er seine Botschaft zurück.
    Bleibt ruhig, ließ er vermitteln. Er beruhigte die Aufregung des Waldes. Lisen selbst hätte diese Frau im Tower willkommen geheißen, wenn auch mit Trauer. Sie hat ihren Platz am Geländer verdient. Der andere ist von den Lios Alfar, und sie haben den Anor gebaut, das sollt ihr nicht vergessen.
    Wir vergessen nichts.
    Nichts, raschelten die Blätter kühl.
    Nichts, schluchzten die alten Wurzeln von altem Hass gequält. Sie ist tot, sie hätte niemals sterben müssen.
    Schließlich aber setzte er seinen Willen durch. Er hatte nicht die Macht, sie alle zu zwingen, aber manchmal konnte er sie überzeugen, und diese Nacht und für diese Frau tat er es. Dann trat er vor die Türen seines Hauses und fuhr mit großer Geschwindigkeit auf Wegen, die er kannte, und erreichte den Anor gerade, als der Mond aufging. Und er machte sich daran, einen Ort vorzubereiten, der all die Jahre leergestanden hatte, seit Lisen ein Geisterschiff hatte vorbeifahren sehen und von ihrem hohen Balkon aus in die Dunkelheit des Meeres hinabgesprungen war.
    Es musste weniger getan werden, als man glauben würde, denn jener Turm war mit Liebe und großer Kunstfertigkeit erbaut worden, magische Kraft war in seine Steine eingebunden worden, so dass sie nicht herabfallen würden.
    Niemals zuvor war er dort gewesen; dieser Ort war zu schmerzlich. Einen Augenblick lang zögerte er auf der Schwelle, er dachte an vieles. Dann öffnete sich das Tor, als er es berührte. Im Mondlicht betrachtete er die Räume im unteren Stockwerk, die für die Wächter bestimmt waren. Er ließ sie, wie sie waren, und stieg nach oben.
    Das Rauschen und Plätschern des Meeres klang in seine Ohren, er kletterte die kaum betretenen Stufen empor, folgte ihren Windungen, bis zum Erkerzimmer des Turmes und gelangte so zum Raum, der Lisen gehört hatte. Die Einrichtung war sparsam, aber wertvoll und von seltsamer Schönheit, sie war in Daniloth geschaffen worden. Der Raum war weit und hell, denn an seiner westlichen Krümmung lag keine Wand, sondern ein Glasfenster vom Boden bis zur Decke, das mit aller Kunstfertigkeit von Ginserat von Brennin hergestellt worden war. Es gewährte den Blick auf das mondbeschienene Meer.
    Die Außenseite des Glases war von Salzflecken getrübt. Er tat einen Schritt nach vorne und öffnete das Fenster, die beiden Hälften teilten sich mühelos und rollten auf ihren Schienen in verborgene Nischen in der gekrümmten Wand. Er trat hinaus auf den Balkon. Das Meer wogte und rauschte vernehmlich, die Wellen schlugen an die Grundmauern des Turmes.
    Er blieb dort lange Zeit, und er gab sich kummervollen Erinnerungen hin; zu zahlreich waren sie, um sie von sich zu weisen oder sich einzeln mit ihnen befassen zu können. Zu seiner Linken sah er den Fluss, der neben dem Anor ins Meer floss. Seit dem Tag, an dem sie gestorben war, hatte er ein Jahr lang rotes Wasser geführt, und jedes Jahr, wenn der Tag wiederkehrte, war es ebenso.
    Einst hatte er einen Namen gehabt, dieser Fluss, aber jetzt nicht mehr. Er schüttelte den Kopf und begann, sich zu beschäftigen. Er zog die Fenster wieder zusammen, und da er überschüssige Kraft genug hatte, reinigte er sie. Er öffnete sie ein zweites Mal und ließ sie geöffnet, so dass die Nachtluft in einen Raum eindringen konnte, der tausend Jahre geschlossen gewesen war.
    In einer Schublade fand er Kerzen und am Fuße der Treppe dann auch Fackeln … es war Holz aus dem Wald, das dazu bestimmt war, an diesem Ort verbrannt zu werden. Er steckte die Fackeln in die
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