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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens
Autoren: Guy Gavriel Kay
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bis unendlich tief aus dem Dunkel ein anderer gekommen war und sie beschützt hatte. Dieses andere Bewusstsein nannte sich Ruana von den Paraiko, in Kath Meigol, und hatte um Hilfe gebeten. Sie lebten noch, sie waren keine Geister, waren noch nicht tot. Das wusste sie, und das war aber auch alles, was sie wusste.
    Sie schüttelte ihren Kopf und traf den unruhigen Blick des Mannes, der sich Dalreidan nannte. »Nein«, gestand sie ein … »Ich weiß nichts mit Gewissheit, nur eines, das ich dir sagen darf.«
    Er wartete. Und sie fügte hinzu: »Ich habe eine Schuld zu bezahlen.«
    »In Kath Meigol?« Aus seiner Stimme sprach wirkliche Angst. Sie nickte. »Eine persönliche Schuld?« fragte er, bemüht, sie zu verstehen.
    Und sie dachte darüber nach: über das Bild des Kessels, den sie mit Ruanas Hilfe gefunden hatte, jenes Bild, aus dem Loren erfahren hatte, woher der Winter kam, und jetzt auch der Todesregen.
    »Es geht nicht direkt um mich«, erläuterte sie.
    Er atmete auf. Eine Spannung schien sich in ihm zu lösen. »Sehr gut«, sagte er. »Du sprichst wie die Schamanen auf der Ebene. Ich glaube, dass du das bist, was du zu sein behauptest. Wenn wir in einigen Tagen oder Stunden sterben müssen, möchte ich dies lieber im Dienste des Lichtes tun. Ich weiß, dass du geführt wirst, aber ich bin jetzt zehn Jahre in den Bergen gewesen und stand an den Grenzen des Platzes, den du suchst. Würdest du einen Ausgestoßenen als Begleiter für diesen Teil deiner Reise akzeptieren?«
    Sie war gerührt, dass er es ihr anbot, vor allem auch, weil er dabei so unsicher war … Dabei hatte er doch unter eigener Lebensgefahr gerade ihr Leben gerettet.
    »Weißt du, worauf du dich dabei einlässt? Weißt du …« Sie unterbrach sich, war sich der Ironie bewusst. Keiner von ihnen wusste, auf was sie sich einließen. Aber dieses Angebot hatte er freiwillig gemacht, und es war ein schönes Angebot. Endlich war sie einmal nicht durch die Macht überwältigt worden, die sie trug. Sie versuchte, ihre Tränen zu verbergen.
    »Es wäre eine Ehre für mich«, versicherte sie. »Für uns beide.« Sie hörte, dass auch Brock zustimmend murmelte. Dann fiel ein Schatten auf den Stein vor ihr. Alle drei sahen auf. Es war Faebur, sein Gesicht war weiß, aber seine Stimme war männlich beherrscht. »In Ta’Sirona, in den Spielen in Teg Vereine, bevor mein Vater mich verstieß, war ich … gewann ich den dritten Platz unter allen Bewerbern im Bogenschießen. Würdest du … könntest du erlauben …« Er unterbrach sich. Die Knöchel der Hand, die seinen Bogen hielt, waren so weiß wie sein Gesicht.
    Sie fühlte einen Kloß im Hals und konnte nicht sprechen. Diesmal ließ sie Brock antworten.
    »Ja«, sagte der Zwerg sanft. »Wenn du mit uns kommen willst, werden wir dankbar sein. Ein Bogenschütze ist immer willkommen.« Und so waren sie am Ende zu viert.
     
    Später an diesem Tag, als bereits die Dämmerung einbrach, kam Jennifer Lowell, die Guinevere war, zum Anor Lisen, viel weiter im Westen.
    Brendel von den Lios Alfar war ihr einziger Gefährte, als sie am Morgen zuvor in einem kleinen Boot von Taerlindel losgesegelt war. Kurz vorher war Prydwen im weiten, wellenbewegten Meer weggetaucht und aus dem Gesichtsfeld verschwunden.
    Sie hatte sich von Aileron, dem hohen König, von Sharra von Cathal und der Priesterin Jaelle verabschiedet. Sie war mit dem Lios Alfar ausgezogen, um zu dem Turm zu gelangen, der vor so langer Zeit für Lisen gebaut worden war, und um dort dann die steinerne Wendeltreppe zu jenem hohen Raum mit dem großen zum Meer gewandten Balkon emporzuklettern. Sie würde, wie auch Lisen es getan hatte, auf diesem Balkon wandeln, auf das Meer hinausblicken und auf die Heimkehr ihres Herzens warten.
    Das Meer war ruhig an diesem ersten Nachmittag, als sie an der Insel Aeven vorbeisegelten, wo die Adler lebten. Brendel steuerte mühelos das Boot. Er wunderte sich über die ausdruckslose Schönheit seiner Gefährtin, gleichzeitig betrübte es ihn auch. Sie war ebenso schön wie die Lios, ihre Finger waren lang und schlank, und er wusste, dass ihre erweckten Erinnerungen fast ebenso weit zurückreichten. Wäre sie nicht so groß gewesen, und ihre Augen nicht so grün, hätte sie von seinem Volk sein können.
    Dies wiederum führte ihn zu einer merkwürdigen Überlegung, während die Wellen ans Boot schlugen und das Segel sich bauschte. Dieses Boot, das schließlich vonnöten sein würde, wenn seine Zeit gekommen wäre, hatte er
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