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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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Stress.
    Teil zwei: Auto mit Kassettenrekorder kaufen oder klauen, volltanken, und ab nach Hamburg. Ich hatte meine Fühler ausgestreckt und erfahren, dass sie jetzt in Hamburg wohnte. Damals hatte sie mir versprochen, die Kohle für mich aufzuheben, die 60000 Mark, für die ich ein ziemlich happiges Stück meines Lebens verheizt hatte. Ich war jetzt einunddreißig, hatte die gesellschaftlichen Eruptionen in der Bundesrepublik, die politischen Veränderungen hier und weltweit nur gefiltert und sowieso passiv, quasi eingemauert, mitbekommen, war in dieser Drei-Mann-Zelle, im stupiden Hofgang und durch den täglichen Blick in Schlangenaugen, auf stramme Muskeln, die üblicherweise mit infantilen Tätowierungen bedeckt waren, und auf Granitgesichter, die zu gleichen Teilen Blödheit und Brutalität ausstrahlten, zu einem anderen Menschen geworden. Das wusste ich da noch nicht. Im Knast hatte ich viel gelesen, von den Russen – Puschkin, Turgenjew, Dostojewski, Gogol und so weiter – über Theodor Fontane, Thomas Mann, Joseph Roth, Franz Kafka und James Joyce, die deutschen und französischen Lyriker des 19. und 20. Jahrhunderts, die amerikanischen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, Thomas Wolfe und William Faulkner bis zu Truman Capote und Saul Bellow, die deutsche Nachkriegsliteratur, natürlich von Grass, Böll, Lenz und Simmel, zumindest in dieser Gefängnisbücherei dominierend, ich hatte mich bildungsbeflissen, ja, okay, aber tatsächlich mit Hingabe, gleichsam in ein Abenteuer stürzend, auf die Literatur eingelassen, die sperrigen Werke der großen Philosophen gelesen und tatsächlich einiges davon sogar begriffen, war oftmals hochbefriedigt gewesen, und hatte geglaubt, die ethischen Grundsätze der Autoren schon durch das Lesen in mich aufnehmen zu können, als wäre ich nichts weiter als ein Schwamm. Jedenfalls hatte ich ernsthaft vor, die Gesetze, sofern sie mit meiner Moral und Gefühlslage übereinstimmten, zu achten. Dann der andere Gedanke, der nicht neu war und sich ausgerechnet jetzt in den Vordergrund schob, den Genuss des zweiten Bieres minderte und mich leicht verunsicherte: Geli, meine frühere Freundin – warum hätte sie die 60 000 Mark für mich aufheben sollen? So gut kannten wir uns doch gar nicht. Wir waren verliebt damals, 1970, eine kurze, glückliche Zeit, genau fünf Wochen. Ich traf sie im
Zoom
, einer Diskothek in Frankfurt. Sie sprach mich an. Ich fühlte mich an jenem Abend nicht besonders gut, was weniger mit dem kläglichen Inhalt meiner Geldbörse zu tun hatte – damit auch, logisch, kein Vergnügen, mit einem einzigen Zehner und großem Durst an einem Tresen zu sitzen –, sondern hauptsächlich damit, dass ich mein tags zuvor im Suff irgendwo im Umkreis von zwei Kilometern geparktes Auto einfach nicht wiederfand. Ich gefiel ihr. Sie stand auf Spinner, auf Typen wie mich, die ihr irgendwo geparktes Auto nicht mehr finden können, die mit einem lumpigen Zehner in der Tasche am Tresen sitzen und von der großen Kohle träumen. Sie war durch und durch Hippie – locker, sanft, stoned, an einen guten Kern im Menschen glaubend. Ich war alles andere als ein Hippie, obwohl ich gegen die Leute nichts hatte, war mehr der Lederjackentyp, trug zwar auch längere Haare, fand die Musik klasse, bewegte mich aber vorwiegend in Ganovenkreisen. Einen guten Kern vermutete ich auch in mir, kannte allerdings massenhaft Kerle, die ihren guten Kern, sofern es überhaupt jemals einen gegeben hatte, irgendwann als Ballast empfunden und kurzerhand in die Mülltonne getreten hatten.
    Geli hatte mir im ersten Jahr ein paar Briefe in den Knast geschickt, im zweiten Jahr eine Karte, dann nichts mehr. Dass sie vor einigen Monaten nach Hamburg gezogen war, hatte ich nicht etwa von ihr, sondern durch Zufall von einem Mitgefangenen erfahren, einem Heroin-Dealer, dessen Kundin sie gewesen war. Heroin also. Nicht gerade beruhigend, was meine Kohle anging.
    Geldgierig war ich nie gewesen. Ich würde mich schon freuen, wenn sie mir die Hälfte übriggelassen hätte. Auf jeden Fall brauchte ich ein Auto, um Geli zu besuchen. Ein Auto mit Kassettenrekorder. Rock’n’Roll-Kassetten. Ich stamme aus Würzburg. Schon als kleiner Junge war ich, den Rock’n’Roll betreffend, sozusagen erleuchtet worden, als aus dem Radio eine fauchende Musikzunge geschossen war, die mich beleckt hatte, heiß und rauh und unsagbar angenehm, das Radio hatte lichterloh gebrannt, und plötzlich war das Wohnzimmer, in dem ich gesessen
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