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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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eh und je die richtige Tageszeit an, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Minuten, als würde sich jede einzelne vorm Verstreichen sträuben, extrem langsam, zäh wie Sirup dahingetropft waren.
    Doch da es natürlich keinen wirklichen Stillstand der Zeit gegeben hatte, war es jetzt tatsächlich so weit. Der Augenblick, für den ich die letzten Jahre gelebt hatte, der tausendmal, unterlegt von einem Song aus meiner Kopf-Jukebox, in diesem Kopf abgespult worden war: Ich stand draußen, vor der hohen rotbraunen Backsteinmauer, vor der Eisentür; ich lächelte. Alles klar! Ich spielte wieder mit. Meine Wünsche und Pläne purzelten alle auf einmal in mir durcheinander, verursachten für einen Moment ein kleines, durchaus nicht unangenehmes Chaos. Der Song, das ausgewählte Stück, legte sich breit über alle Gedanken –
Seagull
von Bad Company.
    Mit einem Mal war der ganze Scheiß vorbei: das Rasseln der Schlüssel, das Ratschen und Quietschen der Riegel, das Fluchen, Schreien und Furzen der Insassen, das Wichsen im Schein des Knastmondes, dessen bläulich-fahles Licht in jede Zelle schwappte, die Intrigen, die Machtkämpfe, der Ersatzkaffee, die Macker und die Tunten, korrekte und beschissene Beamte, die Schweißfüße des Drecksacks, den sie aus der Einzelzelle des Untersuchungsgefängnistrakts in meine Zelle verlegt hatten, weil er selbstmordgefährdet war. Vorbei auch die wöchentlichen Verzweiflungsschübe.
    Ich winkte nicht zum Abschied, obwohl es da drin ein paar verdammt anständige Burschen gab, die ich an einem schöneren Ort gern wiedersehen würde. Die Freiheit einatmen, in tiefen Zügen – sie roch vorwiegend nach dem Gift, das aus den Auspuffrohren der Autos qualmte, doch das war okay, das hatte ich mir auch so vorgestellt. Der Straßenverkehr schien in den sieben Jahren um das Doppelte angewachsen zu sein. Ich kannte die neuen Auto-Modelle aus der Werbung im S PIEGEL , den ich im Knast abonniert hatte, und war schon sehr gespannt darauf – zumindest auf die Kraftprotze unter ihnen. Fette, schnelle Karren – das war mein Ding. Völlig unerwartet, weil seit Ewigkeiten nicht gehört, lief
Cadillac
von Bo Diddley in meinem Kopf, treibender Beat, die typische Bo-Diddley-Gitarre, ein Rock’n’Roll-Saxophon vom Feinsten.
    Obwohl ich anfangs mehr wankte als ging, wie ein nach langer Krankheit endlich Genesener, berauschte mich nach und nach das geile Feeling, frei und ohne Furcht herumlaufen zu können, von einer Straße in jede x-beliebige andere Straße biegen zu dürfen. Ich hätte endlos so weitergehen können, hielt aber hinter der ersten Ecke an, um nach kurzem Rundblick, einer automatischen Vorsichtsmaßnahme, meine Reisetasche zu öffnen, meine Hand hinein- und unter den Plastikboden zu schieben. Das Geld. Ich erfühlte die Scheine, ein paar Hunderter, die ich klugerweise dort versteckt hatte, eine Stunde vor meiner Verhaftung – eine meiner wenigen klugen Handlungen, wie mir gerade auffiel. Außer der Kohle befanden sich noch einige abgetragene Klamotten, Berufskleidung und meine Messer, sechs Küchenmesser – vom kleinen Officemesser bis zum schweren Schlagmesser, alle von der Firma F. Dick – in der Reisetasche. Ich bin gelernter Koch, hatte allerdings nicht etwa wegen eines zähen Rumpsteaks oder einer versalzenen Suppe sieben Jahre abgesessen, sondern weil ich mit einer Knarre in eine Bank marschiert war und eine Plastiktüte über den Schalter gereicht hatte, mit dem Befehl, sie mit Scheinen zu füllen – obwohl es mir an sich verhasst ist, mit anderen Menschen im Befehlston zu kommunizieren. Aber logisch, in so einem Fall war der scharfe Ton sozusagen Pflicht. Nicht der große Wurf, nur 60 000 Mark, aber immerhin. Die Kohle hatte ich bei meiner Freundin gebunkert. Ich hatte die volle Strafe absitzen müssen, da ich mich standhaft geweigert hatte, das Versteck zu verraten. Na ja, scheiß drauf. Im Moment verfügte ich über etwa zwölfhundert Mark – und da war die Rücklage, die vom Lohn für die Scheißarbeit im Knast bis zur Entlassung einbehalten worden war, schon dabei. Trotzdem fühlte ich mich großartig, denn gleich würde ich den ersten Teil meines Plans umsetzen: in der erstbesten Apotheke Speed kaufen, gleich zwei Pillen einwerfen, dann Zigaretten kaufen, gleich eine anzünden, danach in der Bilka-Cafeteria ein halbes Hähnchen mit Pommes frites und Ketchup verdrücken und dazu ein, zwei Flaschen Bier trinken und eine Zeitung lesen. Irgendwann im Laufe des
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