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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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Verständnisvolles Lachen. War ja klar. Der erste Schnaps seit Jahren.
    Der Abend verlief recht unterhaltsam. Unzählige Knastgeschichten wurden ausgepackt – lustige, grauenvolle, ekelhafte. Aber die lustigen überwogen. Ich bestellte ebenfalls eine Flasche Dimple. 80 Mark. Aber scheiß drauf, ich hatte Lust, den ersten freien Tag zu feiern. Na ja, eigentlich hatte ich es langsam angehen lassen wollen, nicht gleich mit Vollgas über die komplizierte Straße der Freiheit brettern. Ging natürlich nicht, wie ich bald feststellen musste. Hätte ich mir auch denken können. Selbstdisziplin und Verantwortungsbewusstsein gehörten zu jener Zeit leider nicht zu meinen hervorstechenden Eigenschaften. Im Knast hatte ich so was ja nicht gebraucht. Um mich herum tobte Kneipenlärm, wehte Atem aus heißen Mündern, Musik lief auch, irgendwas, scheißegal, alle schwitzten, mich inbegriffen, denn ich gehörte schon gleich nach dem ersten Schluck dazu, weil ich dazu gehören wollte. Nicht unbedingt zu diesem, für mich fatalen Milieu, doch es gab nun mal kein anderes, in das ich mich hätte hineinschmiegen können. Nach dem vierten Glas wurde ich von den Wogen der auf mich einstürzenden Eindrücke überflutet, mitgerissen, als befände ich mich in einem tosenden, über die Ufer getretenen Wildbach. Mal tiefes Wasser, mal Stromschnellen, nirgends ein Halt – und dann der Sog, der Strudel, der mich wirbelnd in die Tiefe zog.
    Wo war ich? Wo lag ich denn hier? Eine Parkbank. Über mir das Blätterdach einer Buche. Es dämmerte. Schon wurden die Umrisse sichtbar. Warum fühlte ich mich wie ausgekotzt? Mir tat jeder Muskel weh. Außerdem war ich völlig verdreckt, war die Mundhöhle ausgedörrt wie die Namib-Wüste, mein Gehirn arbeitete so langsam und eingeschränkt, als wären ihm einige wichtige Teile abhanden gekommen.
    Erst mal orientieren. Da vorn reckte sich der Turm der Johanneskirche in den Morgenhimmel. Die Südanlage also. Erst mal nachdenken. War gar nicht so einfach – und tat auch weh. Es fiel mir schwer, das Erinnerungsvermögen anzukurbeln. Nur ein paar Fetzen: Ignatz, viel Whisky, die beiden Arschlöcher, trotzdem gute Stimmung. Ein, zwei Stunden fehlten. Beschissener Blackout. Wo war die Kohle? Meine Finger krabbelten hurtig durch alle Taschen. Alles klar. Natürlich. Ich grinste traurig vor mich hin. Die Wichser hatten mich gerupft. Alles war nach dem uralten Schema abgelaufen: Nach den ersten Gläsern ein saugutes Gefühl von eigener Größe, die Kanten verlieren ihre Schärfe, die Saufkumpane sind in Ordnung. Eine Stunde später verschwimmt alles, erste Anzeichen von Übelkeit, man wankt aufs Klo, kotzt sich aus, danach wird alles wieder leicht und angenehm, man trinkt trotzig weiter – schon um den anderen zu zeigen, dass man nichts verlernt hat. Es dauert dann nicht mehr lange, bis die ersten Sicherungen durchbrennen, schließlich torkelt oder kriecht man in den Tunnel der Ich-Auflösung.
    Vermutlich hatten sie mich hier im Park auf der Bank abgelegt. Mit einem Griff die Geldbörse aus einer meiner Taschen gefischt. Hatten wahrscheinlich besser als ich gewusst, um welche Tasche es sich handelte. Eine Welle der Empörung schwappte über mich. Ignatz, du gottverdammter Drecksack, dachte ich, wie kann es sein, dass du von einem anständigen Einbrecher mit Berufsethos zu einem Scheißkerl verkommen bist? Die Frage war nur oberflächlich naiv, denn ich sah im Verhalten meines ehemaligen Zellengenossen weniger die Gemeinheit – die natürlich auch, schon weil sie für meinen desolaten Zustand verantwortlich war –, als vielmehr die Dummheit. Auch Kriminelle brauchen Kumpel, ein Umfeld, das ihnen relative Sicherheit bietet. Wer in den Ruf gerät, seine ehemaligen Mitgefangenen abzulinken, muss verdammt auf der Hut sein. Aber egal. Die Welt war in den sieben Jahren nicht besser geworden. Hatte auch keiner behauptet. Ein unglaubliches Dickicht hier draußen in der Freiheit, ein endloser Dschungel mit einer Million Möglichkeiten, Jäger zu sein oder Beute zu werden. Mich fröstelte, als ich jäh erkannte, wie beschissen meine Situation nach einem Tag in der Freiheit geworden war.
    Die ersten vier Jahre hatte ich im beinharten Gefängnis in Butzbach unter übelstem Abschaum verbracht, unter Mördern, Erpressern, Schlägern und mächtigen Strippenziehern mit guten Verbindungen nach draußen. Den Rest der Strafe hatte ich im friedlichen Knast in Gießen abreißen dürfen. Hier war alles überschaubar, fast gemütlich
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