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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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gewesen, ohne fiese Überraschungen, hier hatte ich mich geradezu behütet gefühlt.
    Jetzt schmerzte mich jede Bewegung – und der Schmerz zerrte Bruchstücke des Geschehens ins Bewusstsein: Ich hatte mich gewehrt, sie hatten auf mich eingeschlagen.
    Schorf auf der Wange, eine dicke Lippe, die sich anfühlte, als gehöre sie gar nicht zu mir. Den Schlüssel zum Schließfach hatten die Wichser übersehen. Kurzes Aufatmen. In meiner Reisetasche befand sich noch ein Hunderter.
    Mühsam erhob ich mich, schaute an mir herunter, hätte heulen können, was ich mir jedoch untersagte. Eigene Schuld, eigene Blödheit. Ich versuchte, den Mund verächtlich zu verziehen, aber das tat weh. Wie spät? Ja, ja, bis vor einigen Stunden hatte ich noch eine Armbanduhr besessen. Ein Blick zur Kirchturmuhr, auf deren Zifferblatt der Minutenzeiger gerade auf zehn vor fünf kroch. Nicht weit von mir entfernt drehten zwei Bullen gelangweilt ihre Runde. In etwa fünf Minuten würden sie an meiner Parkbank angelangt sein und sich über die Abwechslung sicher freuen. Kein guter Zeitpunkt für ein Gespräch mit Bullen, vor allem wenn man dreckig und zerschlagen war, Alkohol ausdünstete und als letzten festen Wohnsitz das Gießener Gefängnis angeben musste. Ich machte mich schwerfällig auf den Weg, mit dem Schlurfschritt eines Penners.
    Auf dem Bahnhof eilten die ersten Pendler, unausgeschlafen und in sich gekehrt, zu den Zügen. Verloren stand ich mit meiner Reisetasche in der Halle, ein dreckiger, von den Reisenden instinktiv gemiedener Blickfang. Hunger und Durst, die Bahnhofsgaststätte öffnete erst in einer halben Stunde. Und an einen Autokauf war nicht zu denken.
    »Hast du Feuer, Kumpel?« Der Mann, der sich in meine Nähe gewagt hatte, schien ebenfalls ziemlich verkatert zu sein. Merkwürdiger Typ: einige Jahre älter als ich, Rocker-Tolle, hellblaue lange Jacke mit schmalen schwarzen Samtrevers, weißes, mit schwarzen Ornamenten besticktes Hemd, superschmaler Schlips, Levi’s Jeans, weiße Socken, schwarze Slipper. Sah aus wie ein 50er-Jahre-Rock’n’Roller, nicht mehr so schlank, wie er damals gewesen sein mochte, alles sehr weich – das Gesicht, der Körper, die Hände. Ein durchaus anziehendes Gesicht – so ähnlich wie das von James Dean, wenn auch älter, aufgeschwemmt und ziemlich verlebt.
    Ich kramte die Streichholzschachtel hervor, riss den Streichholzkopf über die Reibefläche, durch die Flamme hindurch fragte ich, ob für mich noch eine Kippe übrig sei.
    »Natürlich, Kumpel, excuse me.«
    Lucky Strike, filterlos, keine Steuerbanderole auf der Packung, alles klar, PX-Zigaretten. Wir inhalierten kräftig, als wollten wir unsere Lungen für die Schrecken der Nacht bestrafen, blickten uns an, hungrig nach Kommunikation, entdeckten im Gesicht des Gegenübers offenbar Interesse.
    »Tja, ich seh im Moment ziemlich beschissen aus«, sagte ich, hatte eigentlich etwas Positives über mich sagen wollen, doch mir war nichts eingefallen.
    »Du bist unter die Räuber gefallen? Wenn du willst, kannst du bei mir ein Bad nehmen. Ich wohne in Friedberg, ’ne halbe Stunde mit dem Zug. Danach könnten wir uns noch’n paar Elvis-Scheiben anhören. Hast ja wohl die schlechte Nachricht aus Graceland mitgekriegt.«
    »Logisch, Mann, echt scheiße, die Sache mit Elvis.«
    »Kannst du einen drauf lassen, old boy. Jetzt ist er schon eine Woche tot, goddam. Und ich bin seit einer Woche betrunken.« Der Typ kam jetzt richtig in Fahrt, schien zehnmal mehr zu leiden als ich vor einigen Jahren nach dem Abtritt von Jimi Hendrix. »Elvis war für mich die Welt, you know? Seit 1956 war ich jeden Tag in Gedanken bei ihm. Kannst du dir das vorstellen, Buddy? Als der King 1959 als Soldat nach Friedberg kam, hatte ich das Glück, ihm einmal ganz nah zu sein, mit Händeschütteln und so, Autogramm, ein paar Worte wurden gewechselt, Smalltalk, you know? Ich sagte ihm, ich hätte alle Platten von ihm. Fand er dufte. Dann sah ich ihn noch einige Male aus der Entfernung. Er wurde immer abgeschirmt von, was weiß ich, Bodyguards oder so, und immer unzählige Schaulustige. Der konnte nie allein und unbehelligt einfach mal durch die Straßen gehn. Schon fast ein Martyrium. Ich machte damals Fotos. Sind aber wertlos. Immer stand irgendein Arschloch im Weg. Ich sag dir, es ist kein Zufall, dass ich in Friedberg aufwuchs, in der Stadt, in der Elvis seinen Militärdienst ableisten musste. Solche Zufälle gibt es nicht.«
    Da war ich zwar anderer Meinung, hütete
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