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Das ist nicht wahr, oder?

Das ist nicht wahr, oder?

Titel: Das ist nicht wahr, oder?
Autoren: Jenny Lawson
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Haustier. Derselbe Mann hatte einmal einen kleinen Luchs mit nachHause gebracht, ihn im Haus freigelassen und vergessen, uns Bescheid zu sagen, weil er es »nicht für wichtig gehalten« hatte. Wenn er jetzt also so aufgeregt war, musste in der Schachtel ein wirklicher Knüller sein, zum Beispiel eine Eidechse mit zwei Köpfen oder ein kleiner Chupacabra. Er öffnete die Schachtel und flüsterte aufgeregt: »Komm raus und lerne deine neuen Frauchen kennen, Pickle.«
    Fast wie aufs Stichwort schoss ein kleiner Kopf aus der Schachtel. Er gehörte einem sichtlich eingeschüchterten Eichhörnchen, dessen Augen vor Angst ganz glasig waren. Meine Schwester kreischte entzückt und das Eichhörnchen verschwand wieder in der Schachtel. »Hey, du musst leise sein, sonst machst du ihm Angst«, mahnte mein Vater. Lisas Geschrei war auch wirklich ziemlich ohrenbetäubend, aber wahrscheinlich war das Eichhörnchen ausgeflippt, als es die Zimmerwände gesehen hatte. Mein Präparator-Vater hatte praktisch jede Wand im Haus vollgehängt – mit Füchsen mit aufgerissenen Augen, einem anzüglich grinsenden Riesenelch, zähnefletschenden Bärenköpfen und wilden Ebern, an deren Hauern noch das Blut der Dorfbewohner klebte, die zu langsam gewesen waren. Ich hätte mir als Eichhörnchen auch total in die Hose gemacht.
    Lisa und ich sagten nichts mehr und das kleine Eichhörnchen lugte wieder vorsichtig über den Rand der Schachtel. Es war niedlich, wie Eichhörnchen eben sind, aber ich dachte trotzdem: »Ach ja? Ein beschissenes Eichhörnchen? Und deshalb holst du mich aus dem Bett?« Vielleicht habe ich in Gedanken ja nicht »beschissen« gesagt, weil ich erst acht war, aber vom Gefühl her war es genauso. Dieser Mann packte seine Kinder ins Auto, um zum Vergnügen einem Tornado hinterherzufahren, und hat mir einmal, als er meinen Geburtstag vergessen hatte, eine anderthalb Meter lange Königspython geschenkt. Von daher war das mit dem Eichhörnchen in der Schachtel keine echte Steigerung.
    Mein Vater sah mein perplexes Gesicht und beugte sich tiefer über uns, als wollte er uns ein Geheimnis anvertrauen, das das Eichhörnchen nicht hören durfte. »Das da«, flüsterte er, »ist kein gewöhnliches Eichhörnchen, sondern ein« – er machte eine dramatische Pause – »magisches Eichhörnchen.«
    Ich wechselte einen Blick mit meiner Schwester. Wir dachten beide dasselbe. »Das da«, dachten wir, »ist unser Vater, der uns offenbar für Idioten hält.« Wir wussten genau, was für ein Geschichtenerzähler er war und dass man ihm nicht trauen durfte. Erst letzte Woche hatte er uns geweckt und gefragt, ob wir ins Kino gehen wollten.
Natürlich
wollten wir. Geld war immer knapp, ein Kinobesuch war deshalb ein seltener Ausflug ins Leben der Reichen, die sich Luxusdinge wie Nachmittagskino oder Zentralheizung leisten konnten. Die Leute im Kinosaal konnten sich auch, davon war ich fest überzeugt, richtige Winterschuhe leisten anstelle von mit Zeitungspapier ausgestopften Brotbeuteln.
    Lisa und ich waren vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Mein Vater beauftragte uns, die beiden Kinos in der nahen Stadt anzurufen und alle Filme aufzuschreiben, die gezeigt wurden, damit wir überlegen könnten, was wir ansehen wollten. Wir hörten uns die Kinoansage also immer wieder von vorn an. Eine anstrengende halbe Stunde später hatten wir die Liste komplett und jede Menge Gründe, warum MUPPET MOVIE die einzig logische Wahl war. Mein Vater nickte fröhlich und wir juchzten laut, bis er sich zu uns herunterbeugte und fragte: »Habt ihr denn überhaupt Geld?« Meine Schwester und ich sahen uns an. Natürlich hatten wir keins. Wir trugen Schuhe aus Brotbeuteln. »Na dann«, sagte mein Vater mit einem breiten Grinsen im Gesicht, »ich auch nicht. Aber es hat trotzdem Spaß gemacht, zu denken, wir könnten gehen, oder?«
    Lisa und ich in unseren Brotbeutel Schuhen (kaum sichtbar) vor dem Haus.
    Einige Leser halten meinen Vater jetzt vielleicht für einsadistisches Arschloch, aber das war er nicht. Er glaubte wirklich, dass die Zeit, in der Lisa und ich einen Kinobesuch planten, der nie stattfinden würde, eine willkommene Abwechslung von dem war, das wir sonst getan hätten (wie den Traktor des Nachbarn kurzzuschließen oder mit der Familienschaufel zu spielen). Ich frage mich, ob mein Vater später einmal genauso viel Spaß hat, wenn Lisa und ich ihn anrufen und sagen, wir wollten ihn zu Weihnachten aus dem Altersheim holen, aber dann doch nicht kommen.
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