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Das Impressum

Das Impressum

Titel: Das Impressum
Autoren: Hermann Kant
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der ein langes Leben hinter sich und ein langes Leben vor sich hat. Sie sehen ein Bild von einem Kader.
    Sie wissen, was sie brauchen, und sie haben es gesucht, und nun, glauben sie, haben sie es gefunden.
    Aber ich sehe mich anders. Doch das gilt nicht in der Obersten Abteilung; Selbsteinschätzungen sind als Ergänzung willkommen, aber sie ändern nichts, denn was zählt, sind Taten und deren Folgen. Und an folgenreichen Taten hat es bei mir keinen Mangel; der Aktenblock ist voll davon. Dagegen komme ich nicht an, wenn ich sage: Ich will nicht. Und anscheinend komme ich auch nicht dagegen an, erst recht nicht, wenn ich sage: Ich kann nicht. Denn jede Personalakte läßt sich zu einem Diagramm rationalisieren: In den Vertikalen vergeht die Zeit, auf den Horizontalen das Leben. Die Waagerechten zeigen Stationen: Tätigkeiten, Leistungen, Zugehörigkeiten, Zuständigkeiten, Ränge, Auszeichnungen und Familienstatus. Die Waagerechten zeigen, was man getan hat, wie man funktioniert hat, und die Senkrechten zeigen, wann man es getan. Führt man aber nun durch die Schnittpunkte der Zeit- und Funktionsgeraden eine Linie, so hat man eine Leistungskurve, und mit einem Blick ist die Effektivität eines Mannes erfaßbar. Mähliche Kurve: lahmer Mann, nur von der Zeit befördert; Kurve aus Steigung und Gefälle: unausgeglichener Mann, genauer ansehen, wann Steigung, wann Gefälle,Mitte neunzehndreiundfünfzig abschüssige Bahn? Herbst sechsundfünfzig jäher Aufstieg? Gut, gut gemacht, wiedergutgemacht, aber was war nach dem August von einundsechzig? Und dann der Mann mit der stetig steigenden Kurve, zweiundzwanzig Jahre auf, auf, auf, den haben wir gesucht, hier ist er.
    Diesmal bin ich es. Das Diagramm meines Lebens steht gegen mich, weil es für mich spricht.
    Aber mein Glück ist, die Kadermeister machen es sich nicht einfach. Das ist auch wieder mein Pech, denn so wird es nicht leichter für mich. Die in der Abteilung sind Menschen, und auf Diagonalen allein stützen sie kein Urteil. Sie haben ein Gedächtnis, vor allem ein politisches, aber auch ein ganz einfaches und unübersichtlich arbeitendes Menschengedächtnis. Man weiß nicht, was in seinen Kammern hockt und in welche Richtung es zu drücken beginnt, wenn es sich erst einmal erhoben hat.
    Was etwa fällt Wolfgang ein, Kadermann ganz oben, wenn er sich jäh seiner Unterhose erinnert und meiner im Zusammenhang mit dieser seiner Unterhose?
    Ich habe ihm die Geschichte einmal erzählt, vor ein paar Jahren. Er hatte sie vergessen, und er fand sie komisch und hat gelacht. Ich hatte getrunken, und er hatte sicher auch ein bißchen getrunken, Krimsekt, Empfangssekt, soundsovielter Jahrestag, heute sind wir fröhlich, wie geht’s dir, alter Knabe, weißt du noch? Weißt du noch, habe ich gesagt, wie du den Empfangschef für den Präsidenten vom Weltbund gemacht hast und ich den Kommandeur der Ehrenkompanie, und noch als das Flugzeug schon heranrollte, liefest du so herum, daß man dich leider aus der Wochenschau hätte herausschneiden müssen, ganz zu schweigen vom Weltbundpräsidenten und dessen Augen?
    Nein, hat Wolfgang gesagt; mir scheint, er wußte es wirklich nicht mehr, aber mir scheint auch, einen Augenblick war nichts von Hallo, alter Knabe! in seinem Gesicht, einen Augenblick lang hat er sich abgefragt: Welcher Bund, welcherPräsident, welche Welt, was für ein Empfang und wieso ich beinah aus der Wochenschau herausgeschnitten?
    Ich aber – der Sekt, Freunde! –, ich habe ihm geholfen, denn immerhin, er hatte gesagt: Hilf mir mal, ich hab’s vergessen.
    Ich habe es ihm erzählt: Du kannst nicht wissen, daß ich dabeigewesen bin, denn ich war nur der Chef vom Ehrenspalier, Hundertschaftsführer der Zentralen Ordnergruppe, von den Ehrenjungfern sozusagen die Oberjungfer, und du warst der Abgesandte mit den Blumen. Der Blumen wegen hat es auch so lange gedauert bis zu der schrecklichen Entdeckung. Du hieltest die Blumen fest vor deinem Bauch, rote Nelken, fünfzig mindestens, ja fünfzig rote Nelken, da konnte man nichts sehen, aber dann rollte die Maschine heran, alles schrie, er kommt, ich ließ meine Zentralen Jungfern schon immer mal die Knochen zusammenreißen, die Kameras schwenkten sich ein, und du nahmst die fünfzig roten Nelken vom Bauch in die linke Hand, weil du die rechte gleich zum Brudergruß benötigen würdest, und da sah ich es, alle sahen es, außer dir: Über dem Hosenbund und auf dem blauen Grund deines Hemdes blähte sich grellweiß ein
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