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Das Hexenkraut

Das Hexenkraut

Titel: Das Hexenkraut
Autoren: Franziska Gehm
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völlig reglos vor Schock, auf den Scharfrichter. Der Scharfrichter stand am Rand des Stegs. An der Stelle, wo er die Schwarzleiberin in den See gestoßen hatte. Der große, kräftige Mann schwankte. Sein Kopf leuchtete noch röter als sonst. Er hatte die Fischaugen weit aufgerissen, sein breites Kinn zitterte. In der Hand hielt er das Seil, das er der Schwarzleiberin um den Körper gebunden hatte. Er hatte es aufgerollt und starrte voller Grauen auf das lose, nasse Ende.
    Am Seilende hing etwas. Es war keine Hexe. Es war kein Mensch. Es war leblos, aber dennoch mächtig.
    Ein Raunen und Flüstern ging durch die Menge der Schaulustigen. Marthe schnappte nur Wortfetzen auf:
    »…   Zeichen Gottes   …«
    »…   Herr stehe uns bei   …«
    »…   unschuldige Seele   …«
    Marthe reckte den Kopf, um den Gegenstand am Seilende des Scharfrichters besser sehen zu können. Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. »Ein Kreuz?«, flüsterte sie.
    Marthe hatte richtig gesehen: Am Ende des Seils hing ein einfaches, metallenes Kreuz.
    Aus den Augenwinkeln nahm Marthe eine Bewegung wahr. Sie drehte sich zur Brücke um. Der Landherr schwang sich gerade wieder auf sein Pferd. Mit einem kräftigen Ruck zog er an den Hundeleinen und trieb sein Pferd über die Brücke und auf die Menge der Schaulustigen zu. Die anderen Reiter folgten ihm.
    Die Schaulustigen bildeten für den Landherrn und seine Gefolgschaft schnell eine Gasse. Kurz vor dem Steg brachte der Landherr sein Pferd zum Stehen. Er saß ab und betrat mit großen Schritten den Steg. Seine Hunde folgten ihm. »Soll das die Wasserprobe sein?«, fragte der Landherr. »Was geht hier vor?«
    Der Richter trat rasch neben den Landherrn und erklärte ihm, was geschehen war.
    Der Landherr nickte ab und zu, wobei er den Scharfrichter und das Kreuz am Seilende nicht aus den Augen ließ. Als der Richter geendet hatte, trat der Landherr auf den Scharfrichter zu und nahm ihm das Seil aus der Hand. Er betrachtete das Kreuz eine Weile. Unauffällig roch er daran. Dann hob er es in die Höhe.
    Alle Schaulustigen sahen den Landherrn erwartungsvoll an. Die meisten blickten auf das Kruzifix, das in der Höhe schwebte und von dem noch immer Wasser tropfte, viele bekreuzigten sich und murmelten leise Gebete.
    »Ehrbare Bürger und Bewohner von Harzenstein«, begann der Landherr mit kräftiger, ernster Stimme. »Die Probe des kalten Wassers der Aleke Schwarzleib ist vollzogen. Die Unschuld der Angeklagten ist bewiesen. Das«, sagte der Landherr und zeigte auf das Kreuz, »ist ein Zeichen Gottes. Er hat die Schwarzleiberin als die Seine erkannt und zu sich geholt. Möge sie in Frieden ruhen.« Der Landherr bekreuzigte sich, reichte dem Gerichtsschreiber das Seil mit dem Kreuz und trat gemeinsam mit dem Richter vom Steg.
    Erst nach und nach kam Bewegung in die Menge der Schaulustigen. Viele standen noch immer vollkommen reglos da und starrten auf die Wasseroberfläche.
    Die alte Grauhaarige betete.
    Ein Kind fragte laut: »Mama, ist die Hexe jetzt tot?«
    »Wer hätte das gedacht, eine reine Seele   …«, murmelte der hagere Mann.
    Die Schuhmacherin bekreuzigte sich und verschwand rasch in der Menge.
    Marthe achtete nicht auf sie und all die anderen Menschen. Sie warf einen letzten Blick auf das kleine Kreuz, das der leichenblasse Gerichtsschreiber noch immer in den zitternden Händen hielt. Sie wollte sich gerade umdrehen und zur Brücke eilen, als sie eine kräftige Hand am Oberarm spürte. Marthe fuhr herum. Vor ihr stand Henrich.
    »Wo willst du so schnell hin?«, fragte er.
    Marthe antwortete nicht. Sie wich Henrichs Blick aus.
    »Wo willst du hin?«, fragte er abermals. Leise, aber drängend.
    Eine Weile sagte Marthe nichts. Schließlich murmelte sie leise: »Das weißt du doch genau, oder?«
    Henrich sah Marthe ernst an. Er nickte.
    »Und? Willst du mich aufhalten? Willst du es dem Scharfrichter sagen? Oder dem Landherrn?«, fragte Marthe.
    Henrich musterte Marthe schweigend. »Der Richter hat angeordnet, dass zwei Wachmänner am See bleiben sollen. Erst zwei Stunden nach der Wasserprobe dürfen sie ihren Posten verlassen.« Ein Wachmann rief nach Henrich. Er nahm Marthes Handund drückte sie kurz. »Warte bis zum Einbruch der Dunkelheit. Viel Glück.« In der nächsten Sekunde war er zwischen den Reihen der Schaulustigen verschwunden.
    Marthe sah ihm einen Moment nach. »Danke«, flüsterte sie.
     
    Erst als es dämmerte, wagte sich Marthe wieder zum See. Sie trug
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