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Das Hexenkraut

Das Hexenkraut

Titel: Das Hexenkraut
Autoren: Franziska Gehm
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Richter rollte das Pergament zusammen und reichte es dem Gerichtsschreiber. Manche Zuschauer stießen Beschimpfungen aus. Einige versuchten, die Schwarzleiberin zu bespucken. Andere wiederum sahen sie mitleidig an.
    Der Richter fuhr ungerührt fort: »Wie bereits beider gütlichen Befragung leugnet die Angeklagte auch jetzt jegliches Vergehen. Es wird somit verfügt, sie der Probe des kalten Wassers zu unterziehen.« Der Richter gab dem Scharfrichter ein Zeichen.
    Der Scharfrichter war ein großer, kräftiger Mann. Seine braunen Haare hingen ihm in fettigen Strähnen vom Kopf, an der Stirn lichteten sie sich bereits. Sein Gesicht leuchtete rot und seine Augen standen weit auseinander. Den Kopf hatte er zwischen den breiten Schultern eingezogen. Er trat auf die Schwarzleiberin zu und stieß sie zu Boden. Sorgfältig überprüfte er ihre gefesselten Hände, fesselte danach auch ihre Füße und band zum Schluss Beine und Hände zusammen.
    Wie ein verschnürtes Bündel lag die Schwarzleiberin am Boden und hatte die Augen geschlossen. Sie murmelte etwas vor sich hin.
    Marthe wusste, dass sie betete. Mit Entsetzen sah sie, wie der Scharfrichter ihre Mutter zum Rand des Stegs schleifte.
    Die Menschenmenge wurde immer unruhiger. »Schmeiß sie ins Wasser, die Hexe!«, rief jemand dicht hinter Marthe.
    »Der Herr stehe ihr bei«, flüsterte eine rundliche Frau neben Marthe.

    Der Scharfrichter band ein Seil um die Taille der Angeklagten. Dann sah er zum Richter und wartete auf ein Zeichen. Der Richter nickte kurz. Daraufhin stemmte der Scharfrichter einen Fuß gegen Marthes Mutter und stieß sie ins Wasser.

Die Wasserprobe

    Alle Anwesenden starrten gebannt auf die Stelle, an der die Schwarzleiberin in den Harzensteinersee gefallen war. Zunächst war sie im Wasser versunken, jetzt aber tauchte ihr Körper wieder an der Oberfläche auf.
    »Sie schwimmt!«, rief ein Kind direkt vor Marthe.
    »Wie eine Ente!«, rief ein weiteres Kind und lachte.
    »Sie ist eine Hexe! Wusste ich’s doch«, zischte eine Frau hinter Marthe. Es war die Schuhmacherin. Als sie bemerkte, dass Marthe vor ihr stand, bekreuzigte sie sich schnell und zog ihren kleinen Sohn näher an sich.
    Marthe konnte den Anblick ihrer gefesselten, nach Luft ringenden Mutter nicht länger ertragen. Hektisch ließ sie den Blick über den See schweifen. Sie suchte nach einem Zeichen von Jakob. War er schon im Wasser? Oder war er doch noch zur Besinnung gekommen und hatte seinen selbstmörderischen Plan aufgegeben? Marthe wusste in dem Moment nicht, was ihr lieber war.
    Da! Von der mit Schilf bewachsenen Bucht zog sich eine Spur aus kleinen, kaum erkennbaren Blasen über die Wasserfläche, direkt auf den Bootssteg zu.
    Marthe verschränkte die Hände fest miteinander und betete. Auf einmal kam ihr die Blasenspur so deutlich vor, dass sie sich sicher war, sie würde keinem der Umstehenden entgehen. Nervös beäugte sie die Zuschauermenge. Doch alle sahen wie gebannt auf die Schwarzleiberin, die noch immer an der Oberfläche trieb und um ihr Leben rang. Da bemerkte Marthe Henrich. Er war der Einzige, der in eine andere Richtung sah. Sein Blick folgte der Blasenspur von der Schilfbucht bis zum Steg. Er runzelte die Stirn.
    Einen Moment schloss Marthe die Augen und presste die Hände noch fester aneinander. Als sie die Augen wieder öffnete, sah Henrich sie unverhohlen an. Sein Blick war ernst, aber es lag auch Unentschlossenheit darin.
    Henrich wandte den Blick ab und sah zu Boden. Auf einmal ging ein Raunen durch die Menge. Marthe schaute wieder zum Steg. Ihre Mutter war verschwunden. Mit einem Mal war sie unter die Wasseroberfläche gesunken. Fast, als hätte sie etwas in die Tiefe gezogen. An der Stelle, an der sie sicheben noch gewunden hatte, waren nur noch kleine Blasen zu sehen.
    »Seht nur, sie ist doch keine Hexe!«, sagte eine alte Grauhaarige.
    »Das ist nur eine ihrer Zaubereien!«, rief ein hagerer Mann.
    »Ja, wartet nur, gleich taucht sie wieder auf, die Hexe«, stimmte ihm eine junge Frau mit zwei Kindern auf dem Arm zu.
    Die Schaulustigen reckten die Köpfe, beugten sich zum See und warteten darauf, dass die Hexe jeden Moment wieder auftauchte. Doch stattdessen beruhigte sich die Wasseroberfläche zusehends. Es war, als hätte der See die Schwarzleiberin endgültig verschlungen.
    Nach und nach verstummte die Menschenmenge. Der Scharfrichter kratzte sich an seinem breiten Kinn. Der Gerichtsschreiber spielte nervös mit einer Papierrolle. Alle starrten auf die
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