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Fleisch und Blut - Der Kannibale

Fleisch und Blut - Der Kannibale

Titel: Fleisch und Blut - Der Kannibale
Autoren: Sharon Lee
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Knochenstücke im Wald
     
     
    Das, was in unseren Köpfen nicht existieren darf, sollte auf der Welt keinen Platz haben. Ein frommer Wunsch. Ohne dass man es auch nur ansatzweise bemerkte, schlich sich das Abgrundtiefe hämisch ein und verschaffte sich Raum. Sich dagegen zu wehren half nicht und wegschauen änderte ebenso nichts an der bitteren Existenz des Abartigen. Auch wenn es keiner wahr haben wollte: Seit Menschengedenken war es Teil von uns. Und plötzlich nahm es eine verheerende Dynamik an, mit einem Ausmass, mit dem niemand jemals gerechnet hätte.
     
    Jeder von uns konnte der Nächste sein. Der Nächste, der sich von dem krankhaften Bösen einlullen lassen und in eine unfassbare Geschichte verwickelt sein würde.
     
    Selbst der hartgesottene Kommissar Aemisegger hatte in seinen bald vierzig Berufsjahren nicht annähernd einem Verbrechen wie diesem gegenüber gestanden. Bisher nie hatte er hinein geblickt in derartige Abgründe einer menschlichen Seele, in die Seele der Bestie, und doch eines Menschen wie er selbst.
     
    Er war jemand, den die Nachbarn als kinderlieb und höflich beschrieben. Jemand der, wenn man ihn beim Einkaufen antraf, stets ein Lächeln auf den Lippen hatte. Niemals im Leben hätte sich Kommissar Aemisegger – noch nicht einmal in seinen finstersten Gedanken – vorgestellt, dass ihm etwas so Widerwärtiges begegnen würde. Den Vogel hätte er einem gezeigt, wenn er ihm prophezeit hätte, dass dies sein nächster Fall sein würde.
     
    Alles hatte ganz harmlos an einem Samstagnachmittag im Mai begonnen. Der Himmel hatte sich wolkenlos gezeigt, die Sonne über die Wiesen gestrahlt und über die Wälder, die in sattem Grün kraftvoll leuchteten. Der Winter war hart und lang gewesen. Das Bilderbuchwetter löste in den Menschen ein Gefühl von Freiheit, von Fröhlichkeit, aus. Es war ein Tag, an dem alle nach draussen strömten. So auch die Familie Kunz aus dem zürcherischen Unterland. Es sollte ein glücklicher Familienausflug mit den Kiddies werden. Mit Proviant zum Grillieren hatten sie sich beim Tankstellen-Shop eingedeckt. Die Kinder konnten kaum stillsitzen, so sehr freuten sie sich auf den Ausflug in den nahegelegenen Wald. Besonders darauf, mit Papa das Holz zu sammeln und Feuer zu machen, aber vor allem freuten sie sich darauf, die gegrillten Cervelats direkt vom Holzspiess zu essen. Doch dann kam alles anders als erwartet: der Ausflug nahm ein abruptes Ende, gefolgt von einem hallenden Schrecken.
     
    Kommissar Aemisegger kehrte von der Streife zurück in sein Büro. Die Ruhe im Kommissariat kam ihm mehr als gelegen. Er kaute genüsslich an seinem Salamisandwich und überlegte, ob er den heutigen Tag nutzen sollte, um wieder einmal Ordnung auf seinem Bürotisch zu schaffen - obwohl, eigentlich verspürte er nicht einmal dazu Lust.
     
    Bei Köppel im Büro gegenüber schellte das Telefon. Erst nach dem fünften Ton und nach einem mahnenden Zuruf seines Vorgesetzten griff Kommissar Köppel nach dem Hörer. Sein Blick, der eben noch gelangweilt durch den Raum geglitten war, erstarrte. Erschrocken schaute er hoch, direkt in die fragenden Augen von Aemisegger, und legte auf.
     
    «Aemisegger, wir müssen los!»
    «Halt! Worum geht es überhaupt?»
    «Um Knochen.»
    «Knochen? Was meinen Sie mit Knochen?»
    «Im zürcherischen Unterland haben zwei Kinder in einem Wald Knochen gefunden.»
    «Was soll daran sonderbar sein? Im Wald leben Tiere. Rehe, Füchse, vielleicht auch Wildschweine, wer weiss. Da können schon mal Knochen rumliegen. Ich kann Ihre Panik nicht nachvollziehen.»
    «Herr Kunz, der Vater dieser beiden Kinder, war sich ganz sicher, dass es sich dabei um Knochen eines Menschen handelt.»
    «Um Knochen eines Menschen?» Aemisegger überlegte. Und genau das nervte Köppel.
    «Auf was warten Sie noch, Chef?!»
    «Er war sich ganz sicher, dieser Kunz?» Aemisegger zögerte.
    «Ja, das war er. Offenbar lagen ein menschlicher Schädel und Knochen bei der Feuerstelle im Wald.»
    «Der Kopf eines Menschen?»
    «Sie haben es erfasst! Affen sind bei uns nicht heimisch, soviel ich weiss und einen menschlichen Schädel von dem eines Rehs zu unterscheiden, traue ich jedem zu.»
    «Ich nicht. Doch von mir aus, lassen Sie uns hinfahren. Dann werden wir Gewissheit haben und sehen, ob es sich tatsächlich um menschliche Knochen handelt.»
    «Mo-ment. Sie werden dann Gewissheit haben. Ich bin schon jetzt davon überzeugt.»
     
    Aemisegger und Köppel fuhren auf direktem Weg
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