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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe
Autoren: Viktor Pelewin
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Wir pflanzen uns auch tatsächlich nicht fort, denn wir altern nicht und bleiben so lange am Leben, bis uns etwas umbringt.
    Zu unserem Äußeren lässt sich sagen, dass wir schlank und grazil sind, ohne ein Gramm Fett, mit prächtig ausgebildeter Muskulatur – wie bei Jünglingen, die viel Sport treiben. Feuerrotes Fuchshaar, seidig fein und glänzend. Groß von Wuchs, was früher mitunter eine verräterische Eigenschaft war, doch inzwischen sind die Menschen größer geworden, und wir fallen diesbezüglich unter ihnen gar nicht mehr auf.
    Zwar fehlen uns alle primären Geschlechtsmerkmale, nicht jedoch die sekundären: Für einen Mann würde man einen Werfuchs niemals halten. Normale Frauen sehen uns meistens als lesbisch an. Was Lesben von uns halten, lässt sich denken: Boah, ich werd nicht wieder, ich werd nicht wieder … Und das ist kein Wunder. Noch die schönsten Frauen wirken neben uns wie Rohlinge, grob zugehauene Steinbrocken neben einer fertigen Skulptur.
    Unsere Brüste sind klein und perfekt geformt, mit kleinen dunkelbraunen Brustwarzen. Da, wo bei der Frau das Zentrum der Traumfabrikation sitzt, haben wir etwas äußerlich Ähnliches – eine Organimitation, auf deren Sinn und Zweck ich noch zu sprechen komme. Zum Gebären jedenfalls ungeeignet. Und hinten haben wir den Schweif, eine buschige, bewegliche, feuerrote Antenne. Der Schweif lässt sich vergrößern und verkleinern. Im Ruhezustand ähnelt er einem menschlichen Pferdeschwanz von zehn, fünfzehn Zentimeter Länge, im Funktionszustand lässt er sich bis auf einen knappen Meter ausfahren.
    Bei diesem Vorgang wird auch die Behaarung dichter und länger. Wie bei einem Springbrunnen, wenn man den Wasserdruck verfielfacht hat. (Parallelen zur Erektion des Mannes würde ich hier nicht ziehen wollen.) Der Schweif spielt in unserem Leben eine besondere Rolle, nicht nur seiner außerordentlichen Schönheit wegen. Ich habe ihn nicht ohne Grund eine Antenne genannt. Der Schweif ist das Organ, mit dem wir die Sinne der Menschen betören.
    Wie geschieht das?
    Eben mit Hilfe des Schweifes. Mehr lässt sich dazu nicht sagen. Ich habe nicht vor, irgendetwas zu verheimlichen, ich wüsste nur nicht, was noch anzufügen wäre. Weiß denn ein Mensch, wenn er nicht gerade Wissenschaftler ist, zu sagen, wie er sieht? Oder hört? Oder denkt? Er sieht mit den Augen, hört mit den Ohren, denkt mit dem Kopf, fertig. Und wir bezirzen mit dem Schweif. Die Empfindung ist hier ebenso einfach und klar wie bei den zuvor genannten Beispielen. Die Mechanik des Ablaufs in wissenschaftliche Termini zu fassen versuche ich gar nicht erst.
    Was die erzielten Sinnestäuschungen angeht, so können diese sehr verschiedener Natur sein. Hier hängt alles von den persönlichen Qualitäten des Werfuchses ab, seiner Phantasie, Einbildungskraft, den besonderen Charaktereigenschaften. Und es spielt eine große Rolle, wieviel Menschen auf einmal der Sinnestäuschung erliegen sollen.
    Es gab Zeiten, da waren wir zu vielem in der Lage. Wir erweckten Illusionen von Zauberinseln, führten am Himmel tanzende Drachen vor, und das Tausenden von Leuten. Wir konnten riesige Heere vorspiegeln, wie sie auf die Stadtmauern zu rückten, und alle Stadtbewohner zugleich haben die Streitmacht bis in die Einzelheiten der Ausrüstung, bis hin zu den Aufschriften der Banner gesehen. Aber das waren die großen, die unvergleichlichen Werfüchse der Vergangenheit, die ihre Wundertätigkeit mit dem Leben bezahlten. Insgesamt ist es mit unserer Sippe seit jenen Zeiten deutlich abwärts gegangen – vermutlich wegen der beständigen Nähe zu den Menschen.
    So sind meine Kräfte mit denen großer Werfüchse der Vorzeit natürlich nicht zu vergleichen. Sagen wir es so: Einem einzelnen Menschen kann ich beinahe alles vorgaukeln. Zweien, das klappt meistens auch. Bei dreien hängt es schon von den Umständen ab. Es gibt da keine festen Regeln, die Intuition ist entscheidend. Ich weiß, wie weit ich gehen kann, ungefähr so wie ein Bergsteiger, wenn er vor einer Felsspalte steht. Er weiß genau, an welcher Stelle er hinüberkommt und wo nicht. Springt er zu kurz, stürzt er in den Abgrund – das deckt sich mit unserer Art Hexerei.
    Seine Grenzen sollte man nicht zu überschreiten versuchen, denn ist eine Vortäuschung nicht stark genug, um das fremde Bewusstsein vollständig einzunehmen, dann sind wir geliefert. Was genau dann abläuft, ist schwierig zu beschreiben, nur das äußerliche Resultat ist immer dasselbe:
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