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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe
Autoren: Viktor Pelewin
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Ihnen auch etwas, das ich noch zu keinem anderen Mann gesagt habe. Sie sehen aus wie Captain Nemo.«
    »Der aus Zwanzigtausend Meilen unterm Meer?«
    Oho, ein belesener Portfolio-Manager!, dachte ich.
    »Nein, aus der Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Das war ein amerikanischer Film, da gab es einen außergewöhnlichen Gentleman, der sah Ihnen ähnlich. Unterwasserkaratekämpfer mit Bart und blauem Turban.«
    »Eine Jules-Verne-Verfilmung, oder wie?«
    Der Cocktail kam. Kleinformat – sechzig Gramm, höchstens.
    »Nein, eine Versammlung aller Supermänner des zwanzigsten Jahrhunderts in einem: Captain Nemo, The Invisible Man, Dorian Gray und so weiter.«
    »Ach ja? Klingt originell!«
    »Ist überhaupt nicht originell. Eine auf Vermittlung basierende Ökonomie gebiert eine Kultur, die es vorzieht, vorhandene Bilder fremder Urheber weiterzuverkaufen, statt neue zu kreieren.«
    Diesen Satz hatte ich von einem linken französischen Filmkritiker, der mich um dreihundertfünfzig Euro beschissen hatte. Nicht dass ich ganz mit ihm einer Meinung gewesen wäre, doch jedes Mal, wenn ich den Satz im Gespräch mit einem Kunden anbrachte, kam es mir vor, als arbeitete der Filmkritiker ein paar konvertierbare Rubel von seiner Schuld ab. Für den Sikh war das zu viel.
    »Wie bitte?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
    »Na, jedenfalls sah dieser Nemo Ihnen erstaunlich ähnlich. Der Bart vor allem … Noch in seinem U-Boot hat er die Göttin Kali angebetet.«
    »Dann dürften wir kaum viel gemeinsam haben«, lächelte mein Gegenüber. »Ich bete zu keiner Göttin Kali. Ich bin Sikh.«
    »Ich habe großen Respekt vor dem Sikhismus«, sagte ich. »Mir scheint, er ist eine der vollkommensten Religionen auf der Welt.«
    »Wissen Sie denn überhaupt, was das ist?«
    »Aber ja.«
    »Wahrscheinlich haben Sie gehört, das seien so Typen, die Bart und Turban tragen«, lachte er.
    »Nicht die äußeren Attribute sind es, die mich am Sikhismus interessieren. Mich fasziniert die spirituelle Seite. Insbesondere der Mut, sich auf die Schrift anstatt auf lebendige Lehrmeister zu berufen.«
    »Aber das trifft auf viele andere Religionen genauso zu«, sagte er. »Woanders ist es die Bibel oder der Koran, bei uns der Guru Granth Sahib.«
    »Aber nirgends nimmt man das Buch so als lebendigen Mentor. Außerdem gibt es nirgends ein so revolutionäres Gotteskonzept. Zwei Eigenarten sind es vor allem, die mich verblüffen, weil sie sich von allen anderen Religionen radikal abheben.«
    »Und zwar?«
    »Erstens wird die Tatsache akzeptiert, dass Gott diese Welt durchaus nicht zu irgendwelchen höheren Zwecken, sondern einzig und allein zu seiner Erbauung geschaffen hat. Das zu sagen hat sich vor den Sikhs noch keiner getraut. Und zweitens sind die Sikhs Gottfinder, nicht Gottsucher wie die anderen.«
    »Gottsucher, Gottfinder, was soll das sein?«
    »Erinnern Sie sich an die Aporie von der öffentlichen Hinrichtung, die in den Kommentaren zu den heiligen Texten des Sikhismus des Öfteren angeführt ist? Sie geht, wenn ich nicht irre, auf den Guru Nanaku zurück, ganz sicher bin ich mir nicht.«
    Dem Sikh quollen die braunen Augen hervor, sodass er nun aussah wie ein Krebs.
    »Stellen Sie sich einen Marktplatz vor«, fuhr ich fort. »In seiner Mitte das Schafott, wo dem Verbrecher der Kopf abgeschlagen werden soll, die Menge drängt sich darum herum. Ein gewöhnliches Bild im mittelalterlichen Indien. Nicht anders in Russland. Nun passen Sie auf: Gottsuchertum ist, wenn die besten Köpfe der Nation das Blut an dem Beil nicht mehr mit ansehen können und deswegen anfangen, Gott zu suchen, was hundert Jahre und sechzig Millionen Tote später dazu führt, dass sich die Kreditfähigkeit des Landes um ein Geringes erhöht.«
    »In der Tat«, sagte der Sikh, »das ist eine große Leistung, die Ihr Land da vollbracht hat. Ich meine, die verbesserte Kreditfähigkeit. Und was tun nun die Gottfinder?«
    »Sie haben ihren Gott noch auf dem Richtplatz gefunden. So wie die Lehrer der Sikh.«
    »Welchen Gott meinen Sie?«
    »Gott ist in dieser Aporie sowohl der Scharfrichter, als auch sein Opfer, und damit nicht genug. Er ist die Menge rund um das Schafott, er ist das Schafott selbst, er ist das Beil, er ist das Blut, das von dem Beil trieft, er ist der Marktplatz und der Himmel über ihm und der Staub unter den Füßen. Und natürlich ist er diese Aporie, und was die Hauptsache ist: Er ist der, der sie im Augenblick vernimmt …«
    Ich bin mir nicht sicher, ob der
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