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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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werden, von seinen Augen, seinen Ohren, seinen Sinnen. Nur noch Schwärze und Stille und die Hoffnung, daß es in seinem Kopf auch endlich bald so sein möge, schwarz und still und leer.
    Unten in der Küche regelt die Mutter derweil das Notwendigste. Die widerwillige Schwester wird von der Mutter in ihre Jacke gesteckt, sie hat wieder ihren Ranzen nicht gepackt, also läuft die Mutter hoch ins Zimmer und sucht schnell die Sachen meiner Schwester zusammen, dann fährt sie das Auto aus der Garage, es ist nun schon zehn vor acht, gleich beginnt die Schule. Vergißt sie mich? Vielleicht achtet sie heute nicht auf mich, bei all der Aufregung, und ich kann bleiben, aber ich weiß, ich könnte sowieso schon gar nicht mehr in die Schule, mit diesem Kloß würde ich an keiner Stelle mehr aus dem Haus heraus- und in die Schule hineinkommen, vielleicht ist er sogar schon zu groß für das Schulhoftor. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich setze mich auf die Treppe und warte. Meine Mutter ist draußen in der Einfahrt, meine Schwester auch, die Tür steht noch offen, und ich bin jetzt ganz allein im Haus. Allein, abgesehen vom Vater im ersten Stock. So sitze ichauf der Treppenstufe und stelle mir vor, meine Mutter kommt nicht zurück, sondern fährt die Schwester ohne mich in die Schule und läßt den Kloß einfach mit mir auf der Treppe sitzen. Die Schwester sitzt im Auto und beschwert sich darüber, wieso eigentlich sie heute in die Schule müsse, wo doch der Andreas nicht in die Schule müsse und der Vater auch nicht zur Arbeit. Sie beschwert sich darüber, obgleich sie es kaum mehr erwarten kann, endlich in der Schule unter ihren Freundinnen zu sein.
    Meine Mutter: Dein Vater hat Kopfschmerzen, und dein Bruder fühlt sich nicht wohl.
    Ach, mein Bruder fühlt sich nicht wohl, sagt die Schwester, er fühlt sich ja nie wohl. Er darf sich jederzeit nicht wohl fühlen, und ich muß in die Schule. Ich möchte auch mal so oft fehlen wie mein Bruder.
    Meine Mutter läßt mich natürlich nicht auf der Treppe sitzen. Sie kannte diese Situationen mit mir ja. Sie kam an solchen Tagen noch einmal ins Haus zurück und sagte, wenn es mir so gehe, daß ich nicht in die Schule gehen könne, dann solle ich mich wieder ins Bett legen. Hochgehen und ins Bett legen. Ob ich denn wieder den Kloß im Hals habe? Ob ich krank sei? Ich weiß nicht, werde ich vermutlich gesagt haben, wenn überhaupt ein Ton aus mir herauskam. Und anschließend fährt sie die Schwester zur Schule, und ich nehme meinen Ranzen, laufe die Treppe hoch und betrete wieder mein Zimmer.Alles ist noch da. Der Tisch, auf dem meine Hefte und Bücher liegen, das Fenster, hinter dem die Linden stehen, die Wände, an denen der Setzkasten und mein Kalender hängen. Mein Schreibtischstuhl. In der Ecke der kleine Koffer, in dem ich die komplette Asterixsammlung aufbewahre, die ich von meinem Bruder übernommen habe. Die rote Gardine. Die Schabracke. Der Teppichboden. Die orange-weißen Schränke. Und auf dem Bett mein Schlafanzug. Im Regal das aus Pappe zusammengeklebte Asterixdorf. Asterix und Obelix stehen gerade vor ihrem Haus. Majestix vor seinem, er wird von seinen zwei Trägern getragen. Automatix steht vor seiner Schmiede, und Fischverleihnix vor seinem Haus daneben. Drum herum der Palisadenzaun. Alles geschützt und eingehegt und befriedet.
    Heute frage ich mich manchmal, was meine Mutter damals eigentlich dachte, wenn sie fragte, hast du wieder den Kloß im Hals. Den globus hystericus , wie er offiziell heißt. Zuerst fühlte er sich immer in etwa so an, als sei da eine Art Tennisball. Am Ende füllte er die ganze Welt aus. Noch heute kann ich mich an ihn wie an etwas Räumliches erinnern. Als Kind war er mir natürlich ein Rätsel. Und nun lag ich in meinem Zimmer, und die Mutter war mit meiner Schwester unterwegs zur Schule. Noch fünf Minuten bis zur Schulglocke. Ich lag im Halbdämmer. Irgendwann nach acht Uhr kam meine Mutterzurück und fragte, ob sie mir etwas bringen solle. Bald darauf kam sie mit Tee und Zwieback oder Toast und Marmelade herauf. Sie stellte es auf meinen Nachttisch, versuchte mir etwas davon zu geben, sah, daß es nicht ging, und verließ mich nach einer Weile wieder, nicht ohne mir die Stirn zu befühlen. Ich dämmerte dann wieder eine Weile vor mich hin … manchmal dachte ich an die Schule … stellte mir vor, welche Stunde jetzt war, wie viele Sekunden seit dem Schulgong vergangen waren … Wenn sich mein Kloß etwas zurückgezogen hatte, aß ich den
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