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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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Fieber habe. Meine Stirn ist allerdings vermutlich eher sehr kalt. An normalen Tagen würde mein Vater jetzt mit dem Fragenkatalog beginnen, den er über den Rand der Wetterauer Zeitung hinweg zu stellen pflegt. Was heute in der Schule anstehe, ob ich die Hausaufgaben gemacht hätte, welche Fächer ich hätte, ob ich eine Arbeit schriebe. Diese Fragen stellt er normalerweise allen von unsKindern, und mit meiner Mutter bespricht er beim Frühstück gewöhnlich die Dinge, die zu erledigen sind, während er in Frankfurt bei der Firma ist. Normalerweise. Heute bleibt er stumm.
    Er hält seinen Kopf zwischen beiden Händen, und jetzt kommt die Schwester zurück, die sich eben noch für den Rest ihrer Zeit und ihres Lebens oder wenigstens für den Rest des Tages in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, aber sie hat ihr Frühstück noch nicht beendet und hat nach wie vor Hunger und noch nicht genügend gegessen, also setzt sie sich wieder an den Tisch. Jetzt sitzt sie trotzig da und schaut auf ihren Vater, der sich seinen Kopf hält. Kaum hat sie begriffen, daß mein Vater einen Migräneanfall hat, verstärkt sie ihre Quengelei. Die Migräne steht in Konkurrenz zu ihr. Die Migräne darf nicht so mächtig werden wie sie selbst. Sie, die Schwester, könnte ja auch an Migräne leiden und wäre dann ebenso fein heraus wie der Herr Vater und Rechtsanwalt. Sie ist jetzt vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Sie beißt in ihren Toast, mustert unseren Vater und wedelt währenddessen möglichst demonstrativ mit den Beinen unter dem Tisch, als habe sie in diesem Augenblick gerade besonders gute Laune. Mein Vater schaut nach unten. Sie wedelt, das eine Bein nach hinten, das andere Bein nach vorn. Mein Vater hat die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, neigt mit dem Kopf in den Händenimmer mehr der Tischplatte zu, vielleicht wird er gleich ohnmächtig und kollabiert. Es war der Preis, den er genau und exakt für alles zu zahlen hatte. Der funktionierende Mensch, aber einmal in der Woche komplett lahmgelegt, und dann bleibt der Mercedes-Benz-Dienstwagen in der Garage stehen und der Stuhl im Abteilungsleiterzimmer der Henninger Bräu im Hainer Weg, Frankfurt am Main, unbesetzt. Stille herrscht dann in diesem Zimmer für einen ganzen Tag, abgesehen vom Telefon, das dann häufiger klingelt als an anderen Tagen. Ein einsamer schwarzer Ledersessel, und niemand schaut aus dem Fenster auf den Hainer Weg, und das Zimmer ist für keinen da und wird so selbst zum Bild. Der Abteilungsmitarbeiter, Mosbacher, wird an diesem Tag einen vergleichsweise ruhigen Arbeitstag haben und etwas mehr in den Nachbarabteilungen herumspazieren als sonst und auch sein erstes Bier vielleicht etwas früher trinken als sonst, es sei denn, er steht unter Beobachtung der Sekretärin meines Vaters, und sie meldet ordnungsgemäß am nächsten Tag alle Mosbacherschen Vergehen und Dienstübertretungen und Libertinagen an meinen Vater, den Abteilungsleiter, der dann wieder frisch und munter in seinem schwarzen Ledersessel sitzen wird. Oder Mosbacher seinerseits beobachtet die Sekretärin, die an diesem Tag eigentlich gar nicht weiß, was sie tun soll ohne meinen Vater, und wiesie eine gewisse Schwermut überkommt, auch eine gewisse Unruhe. Ganz hilflos wirkt die Sekretärin ohne ihren Chef. Wie im Leerlauf. Vielleicht geht die Sekretärin in das Zimmer meines Vaters, in einem unbeobachteten Augenblick, und setzt sich in seinen Sessel. Vielleicht geht Mosbacher in einem Moment, da ihn niemand sieht, in das Abteilungsleiterzimmer meines Vaters und setzt sich in den schwarzen Ledersessel. Hebt den Telefonhörer ab. Obgleich keiner anruft. Und auf der anderen Seite des Bildes wird mein Vater im komplett abgedunkelten Schlafzimmer im Mühlweg liegen, inzwischen hat er die vierte oder fünfte Tablette genommen, und jede halbe Stunde kommt meine Mutter hinein und frischt den feuchten Waschlappen auf, der auf seiner Stirn liegt, und an den Füßen trägt er Wollsocken, weil er friert. Nicht das kleinste Geräusch kann er dann noch ertragen. Nicht daß er sich beschweren würde, er kann es dann nur nicht mehr ertragen. Und auch sämtliche Aufsichtsratsgremien und Personalratsversammlungen und Vorstandssitzungen der verschiedenen Krankenkassen und Magistrate et cetera werden an diesem Tag unbesucht bleiben, der Sessel in seinem Büro wird nicht der einzige Platz sein, der an diesem Tag frei bleibt. Vier Tage die Woche kann er teilnehmen, am fünften muß er opfern gehen und seinen
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