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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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meine Mutter rührt Zucker hinein. Die Hemdsärmel meines Vaters sind frisch und ohne Falten und zugeknöpft, die Krawatte bereits umgebunden, er trägt jedoch noch kein Sakko und sieht infolgedessen irgendwie noch unvollständig und unvollendet aus, wie immer beim Frühstück. Es herrscht das grelle Küchenlicht. Immerfort sitzen sie in der Küche im grellen Licht, und der Vater liest gewöhnlich die Zeitung. Das Haus hat zwei Zeitungen, die Wetterauer Zeitung, die beim Frühstück gelesen wird und im Haus verbleibt, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ungelesen im Aktenkoffer meines Vaters verstaut und im Dienstwagen mit nach Frankfurt ins Büro der Henninger Brauerei genommen wird, um dort gelesen zu werden. Heute aber liegt die Wetterauer Zeitung unaufgeschlagen auf dem Frühstückstisch. Als ich hereinkomme, schaut mein Vater nicht auf, erst als ich mich auf meinen Platz setze, bemerkt er mich. Er atmet flach vor sich hin.
    Geht es, fragt die Mutter.
    Ja, ja, es geht, sagt mein Vater. Er blickt auf die Uhr (nicht auf die Uhr an der Wand, sondern auf seine Armbanduhr).
    Ich befühle meinen Hals und kann inzwischen nicht mehr schlucken, sosehr ich mich auch bemühe. Meine Mutter schenkt mir warme Milch ein (ob damals bereits ein Schluck Kaffee darin war, weiß ich nicht), beschmiert mir eine Toastscheibe mit Butter und stellt mir eine Schale mit Birchermüsli hin, mit frisch geriebenem Apfel darin und Basicapulver, gemäß Rezept original nach Bircher-Benner. Jeden Morgen verwendet sie zehn Minuten darauf, Originalmüsli nach Bircher-Benner herzustellen. Meine Mutter ist auf einer Haushaltsschule gewesen und hat dort neben dem klassischen Frühstück mit Toast, Ei, Marmelade und Aufschnitt auch das Frühstück nach Bircher-Benner gelernt, mit dem alles gesünder wurde auch am Frühstückstisch im Mühlweg. Haferflocken müssen ins Müsli, und über alles wird ein weißes Pulver gestreut, bis alles von dem Pulver bedeckt ist, es kommt aus einer blauen Packung. (Basicapulver ist, glaube ich, noch heute erhältlich. Quasi meine ganze Kindheit aß die Familie Basica zum Frühstück, Tag für Tag, und sicherlich wußte all die Jahre niemand außer der Mutter, woraus das weiße Pulver eigentlich bestand.) Mein Vater allerdings rührt an diesem Tag das Müsliebensowenig an wie die Zeitung. Meine Mutter fragt ihn, ob er bereits Kopfschmerztabletten genommen habe.
    Ja, sagt er.
    Sie: Je mehr Kopfschmerztabletten du nimmst, desto weniger wirken sie, das weißt du.
    Mein Vater nimmt seinen Kopf wieder zwischen die Hände und starrt vor sich hin, ohne Antwort. Antriebslos (wie ich) löffelt er dann doch ein oder zwei Löffel Bircher-Benner-Müsli mit Basica in sich hinein und sieht anschließend hilflos und in gewisser Weise auch nachdenklich aus. Auch beim Schluck aus der Kaffeetasse sieht es aus, als kaute mein Vater nur auf dem Schluck Kaffee herum, um ihn gleich wieder auszuspucken. Er kneift die Augen zusammen und schaut schmerzhaft zur Lampe empor, die ihn blendet. Die Migräne kommt immer wieder, und seit einiger Zeit immer öfter.
    Sie: Soll ich dir doch schnell eine Hafersuppe kochen?
    Er: Ja, vielleicht.
    Ich schaue ihn an und weiß, wie peinlich ihm alles das gerade ist. Weder will er jetzt leidend aussehen noch Migräne haben noch eine Hafersuppe essen, der Familienvater und Sohn des Oberfinanzpräsidenten, aber er weiß, daß es sein muß, wenn er heute überhaupt noch irgendwie nach Frankfurt kommen will. Die Hafersuppe (mit Maggi) ist jetzt vorläufigdas einzige, was ihm noch helfen kann. Es ist ein mittelschwerer Migräneschub, wie er ihn fast jede Woche einen Tag lang hat. Ich sitze da mit meiner Milch in der Hand und kann nicht schlucken und betrachte den Vater, wie er da sitzt und an seiner Hafersuppe herumkaut, ohne mehr als zwei Löffel herunterbringen zu können, keinen Löffel mehr als vom Bircher-Benner-Müsli. Manchmal schaut er auf, dann versucht er mir in die Augen zu sehen, er versucht sogar, ermunternd zu schauen, befangen in seiner Rolle als Ermunterer, aber das ist ein hilfloser und vergeblicher Versuch. Ich weiß, er leidet, und dieses Leiden ist immer ein stiller Kampf.
    Warum trinkst du denn deine Milch nicht, fragt meine Mutter und mustert meine Kleidung.
    Ich weiß nicht, sage ich, ich kann nicht.
    Geht es dir auch nicht gut, fragt sie.
    Ich schaue unter mich. Mein Hals, sage ich. Ich kann nur so schlecht schlucken.
    Sie faßt mir an die Stirn, um zu fühlen, ob ich erhitzt bin oder
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