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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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Mut und Zuversicht zuzusprechen, und mein Vater geht mit frischem und tatkräftigem Vorbild voran, wahrscheinlich wesentlich frischer und tatkräftiger, als er tatsächlich war. Aber der Vater hat es sich zum Vorsatz gemacht, wegen des Jungen, damit er vielleicht doch noch in die Spur kommt. So erscheint also für sie jeden Morgen der Problemandreas in der Küche, aber sie tun immer noch so, als sei der Problemandreas ein ganz unproblematischer Andreas, denn dadurch könnte ja der Problemandreas doch noch den Glauben und die Zuversicht gewinnen, kein Problemkind zu sein, sondern ganz normal, er müßte ja selbst nur daran glauben. Er müßte ja selbst nur von sich erlöst werden. Dann wäre alles normal und gut. Und der Andreas ginge endlich mal von sich auf die Welt zu. Weil es eigentlich ja nur letzteres ist, woran es bei ihm fehlt. Nur fehlt es leider nahezu völlig.
    All das ist jeden Morgen in mir, dieser ganze wortlose, stumme, ewig gleiche Diskurs, wenn ich die Treppe zum Frühstück hinuntergehe um sieben Uhr dreiunddreißig. Immer sehe ich dieses komplette, fremde Bild des Andreas vor mir, die Andreasrolle, in die ich ab dem Zeitpunkt wieder gerate, zu dem ich gleich durch die Küchentür in die Küche und anden Frühstückstisch treten werde. Ich, einfach ein Mensch unter Menschen. Alle sind gleich, irgendwie, und alles ist gut, wenn ich auch irgendwie so bin. Was genau wissen sie eigentlich von der Schule, von dem Pausenhof, was wissen sie von meiner Schulbank, meinem Stuhl, von den Wänden des Klassenzimmers, von der Schultoilette? Was wissen sie von meinen Tagen, meinen Stunden, was wissen sie von meinem Tischnachbarn Peter Gonter, denn ich habe ja einen Tischnachbarn, es muß jemand neben mir sitzen und ich neben jemandem, dabei hätte ich natürlich am liebsten allein am Rand gesessen, oder wenigstens neben einem der Mädchen, die aber meistens an anderen Stellen des Saals saßen. Sie glaubten, sie wüßten genau, was mein Tag, mein Pausenhof, mein Tisch, die Saalwände, die Saalfenster, der Unterricht, das Reih-und-Glied-Stehen, die Schultoilette und alles weitere war, und sie wußten es auch, und zugleich wußten sie nichts, nur leider war das nicht ihr Problem, sondern meins. Und genau das war das Schlimme: daß sie mir all das Schlimme als das Gegenteil hinstellen wollten, als das Normale und doch eigentlich ohne weiteres Erträgliche. Daß es für sie offenbar erträglich war, machte es für mich um so schlimmer. So stieg ich die Treppe hinab, mit solchen Gedanken. Ein Kind steigt die Treppe hinab auf dem Weg zum Frühstück, in Friedberg in der Wetterau im Jahr 1975, 1976,1977, noch eintausendvierhundertvierzig Sekunden bis zum Schulgong und dreißig, höchstens vierzig, maximal noch fünfzig Sekunden bis zum Frühstück. Ein Kind in der Kleidung des Vortages, nicht einmal gekämmt, denn das hat es vergessen. Die Stimme der Schwester, die gerade Ich will nicht oder Ich will jetzt das und das schreit, ist schon zu hören. An der Garderobe hängt meine Jacke, die ich in weniger als zwanzig Minuten anziehen muß, um sie auf meinem Schulweg zu tragen. In der Hand halte ich den Ranzen. Den werde ich gleich an der Garderobe abstellen. Ich bin ein ordentliches Kind. Das immerhin. Schon früh mußte ich Ordnung unter allen meinen Gegenständen halten. Es war immer mein letzter Halt. Die Dinge und ich, das war etwas anderes als die Menschen und ich. Der Ranzen steht gleich ordnungsgemäß an der Garderobe. Wenigstens das habe ich dann richtig gemacht. Wenigstens das ist möglich. Schrei nicht so laut! schreit meine Mutter. Du bist so blöde! schreit meine Schwester. Wie redest du mit deiner Mutter! ruft mein Vater. Den Ranzen an die Garderobe stellen und das in diesem Augenblick zum Wichtigsten auf der ganzen Welt werden lassen: daß der Ranzen an der Garderobe steht, wie es sein soll, und im Ranzen ist auch alles in Ordnung. Ich hasse euch! schreit die Schwester. Jeden Morgen dasselbe! ruft mein Vater. Woraufhin die Schwester an mir vorbei die Treppe in ihrZimmer hinaufrennt, um sich für die letzten Minuten vor der Abfahrt einzuschließen, als würde sie nie mehr öffnen und nie mehr aus ihrem Zimmer herauskommen. Um sich einzuschließen und zu schreien und zu hassen und ihre Gegenstände gegen die Wand zu schleudern.

 
    M ein Vater sitzt am Kopfende des Tischs, hält sich den Kopf mit beiden Händen und schaut vor sich hin. Fünf Gedecke, das des Bruders steht noch da. Vor dem Vater Kaffee mit Milch,
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