Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder
Autoren: Diana Gabaldon
Vom Netzwerk:
1
    Familiensache
    LONDON, JANUAR 1758
Die Gesellschaft zur Wertschätzung des
englischen Beefsteaks, ein Herrenclub
     
    Soweit sich Lord John Grey erinnerte, wurden Stiefmütter in der Literatur für gewöhnlich als gierige, bösartige, durchtriebene, mordlustige und gelegentlich zum Kannibalismus neigende Wesen dargestellt. Stiefväter dagegen schienen eher nebensächlich, wenn nicht sogar vollkommen harmlos zu sein.
    »Squire Allworthy vielleicht?«, sagte er zu seinem Bruder. »Oder Claudius?«
    Hal, der mitten im Zimmer stand und unruhig den Globus des Clubs drehte, sah elegant, weltmännisch und absolut unverdaulich aus. Er ließ von seiner Beschäftigung ab und warf Grey einen verständnislosen Blick zu.
    »Was?«
    »Stiefväter«, erklärte Grey. »Im Vergleich mit der mütterlichen Variante scheinen sie auf den Seiten der Romanliteratur bemerkenswert selten vorzukommen. Ich habe mich nur gerade gefragt, in welchen Bereich des Charakterspektrums Mutters neueste Errungenschaft wohl fallen würde.«
    Hals Nasenflügel bebten. Er selbst beschränkte seine Lektüre auf Tacitus und möglichst detaillierte griechische und römische Militärhistorien. Die Angewohnheit, Romane zu lesen, betrachtete er als eine Form moralischer Schwäche. Bei ihrer Mutter, die schließlich eine Frau war, war diese verzeihlich und völlig verständlich. Dass sein jüngerer Bruder diese Unsitte teilte, war weniger akzeptabel.

    Dennoch sagte er nur: »Claudius? Aus Hamlet ? Gewiss nicht, John, es sei denn, du weißt etwas über Mutter, das ich nicht weiß.«
    Grey war sich einigermaßen sicher, dass er eine ganze Reihe von Dingen über ihre Mutter wusste, die Hal nicht wusste, doch jetzt war weder der Zeitpunkt noch der Ort, dies zu erwähnen.
    »Fallen dir denn andere Beispiele ein? Berühmte Stiefväter der Weltgeschichte vielleicht?«
    Hal spitzte die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann griff er sich geistesabwesend an die Uhrentasche seiner Weste.
    Auch Grey fasste sich an die Westentasche, in der seine goldene Uhr - es war die gleiche wie die seines Bruders - ein beruhigendes Gewicht bildete.
    »Noch hat er keine Verspätung.«
    Hal warf ihm einen Seitenblick zu, der zwar kein Lächeln war - zu so etwas war er nicht in der Stimmung -, aber doch mit einem Hauch von Humor versetzt war.
    »Immerhin ist er Soldat.«
    Greys Erfahrung nach war die Mitgliedschaft im Bund der Waffenbrüder zwar nicht unbedingt gleichbedeutend mit Pünktlichkeit - ihr Freund Harry Quarry war Oberst, und er kam chronisch zu spät -, doch er nickte gleichmütig. Hal war schon gereizt genug. Grey wollte keinen törichten Streit beginnen, der am Ende noch auf die bevorstehende Begegnung mit dem auserwählten dritten Ehegatten ihrer Mutter abgefärbt hätte.
    »Es könnte wahrscheinlich schlimmer sein«, sagte Hal und widmete sich wieder seiner mürrischen Betrachtung der Weltkugel. »Immerhin ist er kein verflixter Kaufmann. Oder sonst ein Geschäftsmann.« Seine Stimme triefte bei diesem Gedanken vor Verachtung.
    Tatsächlich hatte man General Sir George Stanley sogar zum Ritter geschlagen, ein Titel, der ihm aufgrund seiner Dienste an der Waffe zuteilgeworden war und den er nicht von Geburt an
trug. Er entstammte zwar einer Familie von Geschäftsleuten, diese hatten sich jedoch auf die respektablen Bereiche des Bankwesens und der Handelsschifffahrt beschränkt. Benedicta Grey dagegen war Herzogin. Zumindest war sie es gewesen.
    Während er der bevorstehenden Hochzeit seiner Mutter bis jetzt einigermaßen ruhig entgegengeblickt hatte, verspürte Grey unvermittelt ein mulmiges Gefühl in der Magengegend - eine körperliche Reaktion auf die Erkenntnis, dass seine Mutter bald keine Grey mehr sein würde, sondern Lady Stanley - eine Fremde. Das war natürlich lächerlich. Gleichzeitig jedoch empfand er auf einmal mehr Verständnis für Hal.
    Die Uhr in seiner Tasche begann, Mittag zu bimmeln. Keine halbe Sekunde später stimmte Hals Uhr ein, und die Brüder lächelten einander an, die Hände an den Westen, plötzlich vereint.
    Die Uhren waren baugleich, eine jede ein Geschenk, das ihr Vater seinen Söhnen zum zwölften Geburtstag gemacht hatte. Der Herzog war am Tag nach Greys zwölftem Geburtstag gestorben, was diesem kleinen Zeichen der Anerkennung seiner Männlichkeit einen schmerzlichen Beigeschmack verlieh. Grey holte Luft, um etwas zu sagen, doch im Korridor erklangen Stimmen.
    »Da ist er ja.« Hal hob den Kopf. Offenbar konnte er sich nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher