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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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Barbaraviertel üblich war. Nachmittags kam der Gößwein, klappte die hölzerne Garagentür nach oben und holte einige Fahrräder in die Sonne heraus, um an ihnen zu arbeiten. Ich schaute ihm zu und durfte ihm manchmal zur Hand gehen; er ließ mich irgendwelche Schraubenschlüssel holen, die nach Größen geordnet in einem Kasten in der dunklen Garage lagen, oder trug mir irgendeine andere kleine Arbeit auf. Der Gößwein war so alt wie mein Onkel J. Er war so etwas wie die lebenstüchtige Version meines Onkels, und seine Fahrradwerkstatt war die realistische Gegenversion zur Phantasiewerkstatt meines Onkels im Keller in der Bad Nauheimer Uhlandstraße. Beim Gößwein hatte alles eine Funktion, und die Fahrräder, deren Bremsen kaputt oder deren Felgen verzogen waren, oder die platt oder anderweitig beschädigt waren, waren bald wieder fahrtüchtig, eines nach dem anderen. Mein Onkel J. dagegen konnte überhaupt nichts reparieren, auch wenn er es glaubte. Manchmal wollte J. mein eigenes Fahrrad reparieren, dann hob er es auf, drehte es um, stellte es auf Sattel und Lenker und holte eine Werkzeugkiste aus dem Vorratsraum in unserem Keller. Ich ging dann weg, weil ich wußte, es würde sowieso nichts passieren. Kam ich eine Viertelstunde später zurück, stand das Fahrrad immer noch auf Lenker und Sattel, aber der Onkel war weg, und sah ich ihn später wieder, sprach ich ihn nicht darauf an. Anschließend schob ich das Rad zum Gößwein, der es reparierte und mir zeigte, wie ich es beim nächsten Mal selbst in Ordnung bringen könnte.
    Die meisten Räder beim Gößwein gehörten Erwachsenen und waren größer als meins. Ich stellte mir vor, irgendwann auch ein so großes Rad zu besitzen und dann die Grenze unseres Barbaraviertel-Kessels hinter mir zu lassen und noch ganz andere Dinge zu erkunden. Manchmal kam ich mit dem Fahrrad beim Metzger Blum vorbei, und wenn ich nur lange genug vor dem Schaufenster stehenblieb, rief mich die junge oder die alte Frau Blum herein, dann lehnte ich mein Fahrrad gegen den Zaun (abschließen mußte man nicht) und bekam drinnenein Stück Wurst, meistens Gelbwurst oder Fleischwurst. Oder ich fuhr wieder zu unserem Haus zurück und hielt dann gegenüber bei den Eilers, die dort wohnten. Herr Eiler, ehemals Jugoslawe, zu der Zeit schon eingebürgert, arbeitete in der Garage. Er trug sommers immer eine kurze braune oder graue Hose mit Bundfalten, ein Unterhemd, Socken, Sandalen und meistens einen Hut auf dem Kopf gegen die Sonne. Er tat in der Garage das, was später auch sein Sohn machen würde, als Herr Eiler schon längst tot war: er besserte das Automobil aus. Ständig mußten zum Beispiel rostige Stellen beseitigt werden. Der Rost wurde abgeschmirgelt, dann wurde eine weiße Paste darauf gespachtelt, anschließend wurde die betreffende Stelle poliert und wieder lackiert. Bald wurden auch die Autos sämtlicher Bekannter in der Eilerschen Garage ausgebessert, abgeschmirgelt, poliert und lackiert, und Herr Eiler bekam dafür einen Geldschein in die Hosentasche gesteckt. (Nach dem Tod von Herrn Eiler und nachdem sein Sohn ausgezogen war, wurde die Garage vermietet, ebenfalls an einen reparierenden Autobesitzer, diesmal mit Sportwagen.) Ich ging gern zu den Eilers. Oft saß ich dann bei Frau Eiler in der Küche und bekam etwas zu essen. Wenn sie einen falschen Hasen gemacht hatte und mich auf der Straße vorbeikommen sah, rief sie, Andi, ich habe falschen Hasen gemacht, willst du was? Sie wußte, daß ich ihren falschen Hasen mochte (zu Hause bei uns gab es das nie). Überhaupt aß ich gern bei den Eilers. Es gab eine Scheibe Brot dazu, ich saß an einer karierten Tischdecke, die Küche war klein und einfach, so wie überhaupt das Eilersche Haus ganz einfach gebaut und im Vergleich zu unserem geradezu winzig war. Herr Eiler aß auch falschen Hasen, trank einen Sliwowitz, füllte anschließend seine Thermoskanne und packte seine Ledertasche, um sich auf sein Fahrrad zu setzen und zur alten Zuckerfabrik in die Fauerbacher Straße hochzufahren, wo er Torwächter war. Er hatte immer Schichtdienst.
    Mein Fahrrad hatte meinen Weltkreis erheblich erweitert, ich kannte bald die ganze Straße und das ganze Viertel. Stadtwärts konnte man das Barbaraviertel nur an zwei Stellen verlassen, an den besagten vierundzwanzig Hallen, unter denen es steil den Burgberg hinaufging, und an jener Bahnunterführung Ecke Fauerbach, zu der die Gebrüder-Lang-Straße im hinteren Teil kaum minder steil anstieg. Das
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