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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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Staub, der sich überall abgelagert hatte. Vor allem aber habe ich noch eines im Gedächtnis, und das ist auch der Kern meiner Erinnerung an Manuela, von der ich heute nicht einmal mehr den Nachnamen weiß: das Baumhaus.
    Irgendwer hatte in den Jahren zuvor auf dem Firmengelände ein Baumhaus am Usa-Ufer gebaut. Es war nicht eigentlich ein Haus, mehr nur eine Plattform, zu der man mit einer Leiter hinaufklettern konnte. Dort saß ich mit Manuela an den Nachmittagen. Wir schauten auf die Usa, schauten auf die Bäume, schauten in den Himmel, und wir sprachen miteinander. Was wir uns erzählten, weiß ich kaum mehr. Ich weiß noch, daß sie von ihrer Familie erzählte, die natürlich vollkommen anders war als meine Familie, und daß ich wiederum von meiner Familie erzählte, die sie als Siedlungskind natürlich mindestens ebenso grotesk fand wie wir die Siedlungsfamilien. Unser Haus war das mit Abstand größte Einfamilienhaus im Barbaraviertel, man kann nicht sagen, daß uns diese Tatsache im Viertel besonders beliebt gemacht hätte. Ansonsten war das Barbaraviertel hauptsächlich mit kleineren Häusern aus der Nachkriegszeit bebaut, in denen meistens noch drei Generationen ein und derselben Familie zusammen wohnten. Die Firma, das Haus und die Siedlung befanden sich im Mühlweg auf engem Raum beieinander, sie waren nicht weiterals achtzig Meter voneinander entfernt, aber unser Grundstück, das auf der Höhe der Siedlung begann, erstreckte sich dann so weit Richtung Südosten, daß die Siedlungskinder oft gar nicht wußten, wo es endete. Manuela hatte die üblichen Geschichten über uns gehört, und ich hatte über die Siedlungskinder auch immer nur die üblichen Geschichten gehört. Trotzdem waren wir uns schon am gemeinsamen Schultisch nähergekommen, und nun erzählten wir im Baumhaus von den anderen Familienmitgliedern und überhaupt von unserem Leben und was jeder von uns so mache, und was wir uns erzählten, teilten wir anschließend als Geheimnis und verteidigten dieses Geheimnis eine Weile gegen die ganze Welt. Übrigens weiß ich noch, daß ich mich damals ernsthaft dahingehend prüfte, ob ich verliebt sei, vielleicht hatte man es uns auf dem Schulhof schon nachgeschrien. Ich wußte, daß Verliebtsein etwas mit Jungen und Mädchen bzw. irgendwie mit dem Zusammensein beider zu tun habe, ich hatte aber keine Ahnung, wie genau es sich anfühlte, ob es sich überhaupt irgendwie anfühlte oder ob es nicht eher etwas Materielles war, das von außen dazukommen mußte, oder daß eine objektive Instanz eine Art von Schiedsspruch aussprechen mußte, und dann war man erst rechtmäßig verliebt. Daß wir uns an den Händen hielten, glaube ich schon, so wie man es als Kinder macht. Daß wir uns küßten, glaube ichnicht. Daß wir beide wußten, daß wir in gewisser Weise einen Regelverstoß begingen, glaube ich wiederum, denn ein Junge hätte mit einem Jungen und ein Mädchen mit einem Mädchen spielen sollen. Aber wir spielten ja eigentlich gar nicht miteinander. Es war schön, wenn der Nachmittag immer länger dauerte und allmählich in den Frühabend überging und wir im Baumhaus saßen. Es war für mich wie ein Abenteuer, ich saß neben Manuela und war zugleich aufgeregt und glücklich. Manuela, das weiß ich noch, hatte lange Haare, aber sie war nicht sonderlich hübsch. Sie muß braune Augen gehabt haben, aber eine ziemlich bleiche Haut. Es gab Mädchen in der Klasse, die viel hübscher waren. Vielleicht war das Erstaunlichste für mich die Selbstverständlichkeit, mit der wir dort saßen. Immer hatte ich vor anderen Kindern Angst gehabt, und nun saß ich hier mit einem anderen Schulkind, und ich mochte es, und es mochte mich.
    Wenn wir uns getrennt hatten, fuhr ich noch eine Weile durch die Straßen des Barbaraviertels.

 
    A ber wenn sich der Kloß bemerkbar gemacht hatte und ich krank war, mußte ich natürlich den ganzen Tag zu Hause bleiben. An diesen Tagen konnte ich nicht auf mein Fahrrad steigen, um durch das Viertel zum Gößwein oder an die Usa zu fahren oder Manuela zu treffen. Wenn bei meinem Vater die Kopfschmerzen so schlimm geworden waren, daß er es gar nicht mehr aushielt, brachte meine Mutter ihn mittags zum Doktor Kielhorn nach Bad Nauheim. Das war das allerletzte Mittel. Kaum hörte ich an solchen Tagen, daß meine Eltern das Haus verließen, stand ich am Fenster und schaute den Vorgängen draußen zu: wie sich mein Vater zum Wagen schleppt, wie meine Mutter die Garage schließt und das Hoftor
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