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Das doppelte Rätsel

Das doppelte Rätsel

Titel: Das doppelte Rätsel
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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„Na, wie fühlen Sie sich so als Raumbaby?“ fragte der grauhaarige Reisende seinen jungen Nachbarn, als sie die Atmosphäre hinter sich gelassen hatten und der Himmel auf den Sichtschirmen schwarz geworden war.
    Dem Jüngeren mißfiel die Frage. Wer läßt sich schon gern ein Baby nennen, noch dazu im Kosmos! „Würden Sie es als ausgesuchte Höflichkeit empfinden, wenn ich Sie als Raumgreis bezeichnete?“ fragte er zurück. Aber der Versuch, seine Unsicherheit hinter gewählten Formulierungen zu verstecken, schlug fehl.
    Der Ältere überhörte die Bissigkeit. „Und Sie haben keine Angst?“ fragte er weiter.
    Der Jüngere drehte den ganzen Oberkörper herum in einer Art, die etwas besagen sollte: Was ist das eigentlich für einer, der hier so kindische Fragen stellt? Er sah ein breitknochiges Gesicht, und er dachte, daß dieses Gesicht in seiner Jugend, bevor geistige Arbeit seine Züge geprägt und verfeinert hatte, grobschlächtig und sicherlich auch ein bißchen dümmlich ausgesehen haben mußte.
    „Zufrieden mit dem Ergebnis der Musterung?“ fragte der Ältere. Warum den Beleidigten spielen? dachte der Junge und entschied sich, lieber auf die vorangegangene Frage zu antworten. „Warum soll ich denn Angst haben? Seit hundert Jahren fliegen Raketen zum Mond — was soll es da noch für Überraschungen geben!“ Der Ältere lehnte sich zurück, offensichtlich befriedigt darüber, daß die Unterhaltung in Gang kam. „Angst ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck für das, was ich meine — mich jedenfalls regt jeder Flug auf oder an, wenn Sie wollen. Freilich, seit hundert Jahren fliegen Kursraketen zum Mond — aber was ist schon ein Jahrhundert im Kosmos! Es wird immer wieder Überraschungen geben.“ Ein geschwätziger alter Knochen! dachte der Jüngere ärgerlich. Der Ältere dagegen dachte vergnügt: Jetzt ist sein Urteil über mich fertig! Laut sagte er: „Es gibt zwei Sorten von Raumbabys — die kaltschnäuzigen und die aufgeregten. Sie werden's nicht glauben, aber die Aufgeregten sind mir lieber. Sie leisten dann später mehr. Weil sie den Raum im Gefühl haben.“
    „Wenn Sie noch mehr solche Sympathiekundgebungen auf Lager haben — nur zu!“
    Der Ältere merkte, daß die Plänkelei den Jungen zu ärgern begann, und lenkte ein. „Nun seien Sie nicht böse. Ich bin ein alter Hase, und Sie sind kein Tourist, sondern wollen auf dem Mond arbeiten. Und da müssen Sie etwas lernen, was an keiner Schule gelehrt wird: Eine gute Aufregung zur rechten Zeit kann manchmal mehr wert sein als ein Dutzend Archive voll Wissen. Oder mindestens ebensoviel. Wollen Sie eine Geschichte hören?“
    Der Jüngere versicherte — mit einem leisen Knurren in der Stimme —, er sei für Geschichten immer zu haben, besonders aber auf langweiligen Reisen; vorausgesetzt natürlich, daß die Geschichten nicht auch langweilig seien. Dann setzte er sich zum Zuhören zurecht, mit der Miene eines Mannes, der einem anderen die Gnade erweist, sich von ihm etwas erzählen zu lassen.
    Der Ältere runzelte die Stirn. „Langweilig? Kaum. Es handelt sich um ein Rätsel, sogar um ein doppeltes!“
    Ich bin Bioniker und arbeitete zu der Zeit, als die hier zur Rede stehenden Ereignisse sich abspielten, über die Anpassung von Spatzen an die geringere Schwerkraft auf dem Mond. Ich sehe, Sie lächeln. Das ist natürlich Ihr gutes Recht, aber damit Sie etwas mehr Achtung vor unseren Spatzen bekommen, will ich Ihnen einen Vergleich vorhalten: Wenn wir denjenigen Teil der Sinnesorgane und des Nervensystems, der im Spatzen die Orientierung und die Flugsteuerung besorgt, mit elektronischen Mitteln nachbilden wollten, so würde dieser Apparat beim heutigen Stande der Entwicklung etwa so groß wie der ganze Spatz werden und zehnmal so schwer. Wollten wir aber nun diesem Apparat zusätzlich die Fähigkeit verleihen, auch unter veränderten Schwerkraftbedingungen zuverlässig seinen Dienst zu tun, würden sich Volumen und Gewicht verhundertfachen. Der Spatz kommt aber ohne zusätzliche Einrichtungen aus, ihm genügt ein bißchen Zeit, um sich umzugewöhnen. Ich sehe, Sie lächeln nicht mehr, das spricht für Ihr Denkvermögen.
    Im Grunde hat das mit meiner Geschichte nichts zu tun und sollte nur zeigen, daß ich als Erzähler die Sache von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus sehen mußte. Aber wer weiß — vielleicht hat es doch etwas damit zu tun, und Sie erinnern sich am Schluß sogar an diesen kleinen, alltäglichen und doch
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