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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus
Autoren: Andreas Maier
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war die Straße, in der der Gößwein sein eigentliches Geschäft hatte. Beide Übergänge akzeptierte ich als natürliche Grenze und dachte darüber auch nicht weiter nach. Den hinteren Teil der Gebrüder-Lang-Straße fuhr ich nur hoch, um entweder beim Gößwein etwas für das Fahrrad zu holen oder mich mit Höchstgeschwindigkeit vonoben hinunterrollen zu lassen. Dann versuchte ich stets, mit dem Schwung, den ich hatte, bis zum anderen Ende der Gebrüder-Lang-Straße zu kommen, wo sie auf die Usa stößt und in den Mühlweg abbiegt. Mich kümmerte nicht weiter, daß ich dabei an zwei Straßen vorbeikam, aus denen jederzeit hätten Autos auf die Gebrüder-Lang-Straße einbiegen und mich überfahren können. Im Grunde genommen war es wie russisches Roulette. Aber es passierte nie etwas, es kam nie ein Automobil von rechts, dort hinten war nur der Friedhof, und den suchten die Friedberger, zumal die älteren, oft noch zu Fuß auf. Die meisten von ihnen hatten gar kein Automobil.
    Mit der Zeit wußte ich, wer wo wohnt, zum Beispiel auch, wo die Freundinnen meiner Schwester lebten. Diese Häuser umfuhr ich immer weiträumig. Ich fuhr an den kompliziertesten Stellen mühelos freihändig, und manchmal gelang es mir sogar, freihändig und mit geschlossenen Augen vom Mühlweg zum Edeka zu fahren, der zwei Straßenecken weiter lag. Das war natürlich ebenfalls ziemlich gefährlich, aber auch das kümmerte mich seltsamerweise nicht. Es reizte mich vielmehr. Im Edeka kamen die Kinder vorbei und kauften oft etwas für ihre Mütter ein, die zu Hause den Haushalt besorgten. Sie bekamen von der Mutter ein Zweimarkstück, dann holten sie kleine Flaschen Korn, vielleicht auch eine Flasche Bier, wenn zu Hause keines da war. Herr Becker,der Verkäufer, saß an der Kasse, kassierte die Kinder ab und ließ einen Gruß an die Mutter zu Hause ausrichten. Noch heute kann ich im Geist durch den kleinen alten Edeka-Laden laufen und weiß genau, wo was war. Die kleinen Schnapsflaschen gab es wie immer an der Kasse.
    Einige aus meiner Klasse wohnten im Barbaraviertel, auch zu ihnen fuhr ich nicht. Ich ging auch nicht gern zur Siedlung, vor der stets gewarnt wurde. Die Siedlung bestand aus zwei großen Wohnblöcken, dort lebte man in kleinen Wohnungen, sozialer Wohnungsbau, und zwischen den beiden Blöcken war ein Spielplatz. Wer dort wohnte, war sozusagen stigmatisiert, über ihn hieß es dann nur: »Er wohnt in der Siedlung.« Das reichte als Charakterisierung der betreffenden Person. Die aus der Siedlung gingen zwar auf meine Grundschule, aber nach der vierten Klasse waren sie alle weg; einige von ihnen sah ich später noch auf dem Pausenhof der Gesamtschule wieder, die ich besuchte, allerdings immer nur dort, wo die Hauptschüler zusammenstanden und rauchten. Aber in der Siedlung wohnte auch Manuela, deshalb war ich manchmal dort.
    Wenn wir beide unterwegs waren, war oft die alte Firma unser Ziel. Sie lag der Siedlung direkt gegenüber, war inzwischen stillgelegt, das Gelände war schon einigermaßen mit Gras überwuchert, erste Birken wuchsen empor, aber die Gebäude standennoch alle da und waren noch nicht abgerissen. Das Tor war abgeschlossen, aber es gab genügend undichte Stellen im Zaun, so daß man mühelos auf das für mich damals riesige Grundstück schlüpfen konnte. Das Erdgeschoß der alten Mühle, in der Frau Rauch ihr Büro gehabt hatte, stand nunmehr leer, dafür war jetzt der obere Stock vermietet, dort wohnten neuerdings Türken. Wir betraten die Mühle nicht, wir hielten uns eher weiter hinten Richtung Usa auf, streunten durch die riesigen Lagerhallen, verliefen uns, gerieten in irgendwelche Ecken, in dunkle Räume, wo altes, schweres Eisengerät herumstand, und überall war noch der Geruch der Firma, der Geruch nach Eisen und nach Öl oder Schmierfett. Wir kletterten auf den Maschinen herum und versteckten uns irgendwo in den riesigen Hallen. Wir entdeckten immer neue Winkel, denn ich hatte früher, als die Firma noch existierte, natürlich keinerlei Überblick über das Gelände gehabt, ich war dafür viel zu klein gewesen. Und auch jetzt könnte ich aus den fragmentarischen Erinnerungen, die ich noch vom Herumstreunen mit Manuela aus der Siedlung habe, nicht annähernd ein zusammenhängendes Bild der Firma rekonstruieren. Ich habe nur noch Eindrücke von dunklen Kammern, lichtdurchfluteten Hallen mit zerbrochenen Scheiben und riesigen Schiebetoren, von den besagten Maschinen, die überall herumstanden, und von demganzen
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