Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
erinnerst du dich, wie wir uns begegnet sind?«, fragte er, und ich war betroffen von seinem stählernen Blick.
    Das war, als die Amla unter starkem Husten litt, der nicht besser wurde. Sie meinte zwar, sie sei zäh und bei ihr heile alles von selbst, doch ich machte mir Sorgen. Schließlich vereinbarte ich für sie einen Termin beim Arzt. Dieser war gerade nicht da: ein Notfall. Ein Assistenzarzt empfing uns. Sein freundliches Gesicht strahlte ein bezauberndes Lächeln aus. Sympathisch, dachte ich. Er untersuchte meine Mutter. Ich war nicht dabei; sie hatte darauf bestanden, dass ich draußen wartete. Es stellte sich heraus, dass sie eine Bronchitis hatte. Der Assistenzarzt verschrieb ihr Medikamente, die ihr guttaten. Ein paar Tage später rief er an und fragte, wie es ihr ging. Danach gab er offen zu, dass er mich gern wiedersehen würde, und lud mich zum Essen ein. So fing es an. Ich verfolgte die Gedanken, die sich so lebendig in mir regten, und nickte.
    »Ich habe alles noch gut im Kopf.«
    Er ging vom Fenster weg, setzte sich wieder zu mir auf die Bettkante. Wir saßen ganz nahe beieinander, ohne uns zu berühren. Er sprach ein bisschen müde und so sanftmütig, dass ich verlegen wurde.
    »Dolkar, ich breche hier ein Berufsgeheimnis. Aber schließlich handelt es sich um unser Privatleben. Sag, hast du deine Mutter schon einmal nackt gesehen?«
    Ich fuhr zusammen.
    »Ich … ich verstehe dich nicht. Was hat das damit zu tun?«
    »Antworte mir einfach: ja oder nein?«
    Ich hörte ihn die Frage stellen und war fassungslos. Und musste betroffen zugeben, dass - nein - ich meine Mutter nie unbekleidet gesehen hatte. Selbst im Sommer, bei heißem Wetter, trug sie die tibetische Tracht, leichte Stoffe, die sie bis zum Hals verhüllten. Bei der Hausarbeit hatte sie Jeans an, dazu
eine langärmlige Bluse oder einen Pullover. Sie hatte sich auch nie einen Badeanzug gekauft. Sie sagte, dass sie nicht schwimmen könne und zu alt sei, um es zu lernen.
    Sogar ihr Nachthemd war lang und hochgeschlossen. Und wenn sie duschte oder badete, schloss sie sich ein. So war es immer gewesen. Wie sonderbar, dass es mir nie aufgefallen war!
    Die Adern an meinen Schläfen begannen zu pochen.
    »Nein«, sagte ich, »eigentlich nie. Ist etwas Besonderes mit ihr?«
    Er antwortete langsam und bitter: »Sie hat Narben auf dem Rücken. Narben, wie ich sie noch nie gesehen habe. Als ob jemand versucht hätte, Hackfleisch aus ihrem Rücken zu machen. Sei mir nicht böse«, setzte er schnell hinzu, als er mein Gesicht sah. »Ich will dir nur die Sache beschreiben.«
    Es war wie ein Blitzlicht. Es leuchtete mir und blendete mich im gleichen Augenblick. Durch die Funken sah ich die Wahrheit, eine schreckliche Wahrheit. Ich stammelte: »Ist sie gefoltert worden?«
    »Es sieht ganz danach aus. Aber sie muss noch sehr jung gewesen sein, die Narben sind gut verheilt. Natürlich verfügt sie nicht über ihre volle Bewegungsfreiheit.«
    »Sie sagte, sie hätte Rheumaschmerzen …«
    Er machte eine vage Bewegung.
    »Das mag hinzukommen. Ich persönlich wundere mich …«
    Er schluckte und biss sich auf die Lippen. Ich sah ihn aufgewühlt an.
    Er sagte: »Um ganz ehrlich zu sein, wundere ich mich, dass sie überhaupt noch am Leben ist.«
    Ein Frösteln überlief mich.
    »Warum hast du das so lange mit dir herumgetragen?«
    »Ich dachte, du wüsstest Bescheid und wolltest nicht darüber sprechen …«
    Ich fasste mich an die schmerzende Stirn.
    »Sie hat mir nie etwas davon gesagt.«

    »Ich kann mir das nicht vorstellen. Du bist ihre Tochter.«
    Ich war verwirrt, abwesend und erschöpft. Felix schien sich seiner Sache so sicher. Er hatte der Kraft, die ich zu besitzen glaubte, einen schweren Schlag versetzt. Meine Ruhe, meine Heiterkeit waren dahin. Alle Appelle an die Vernunft konnten daran nichts ändern. Ich sagte mit matter Stimme: »Ich nehme an, dass sie mich schonen wollte.«
    »Vielleicht wollte sie sich selber schonen?«
    Die Angst hatte mich gepackt. Eine von der Sorte, die zu weit geht, wenn man Fieber hat. Ich fühlte mich hilflos.
    »Ich weiß es nicht. Sie lebt in ihrer eigenen Welt.«
    »Und lässt dich draußen stehen. Findest du das gut und richtig? Ich für meinen Teil glaube, dass es besser ist, wenn man die Wahrheit weiß.«
    Meine Verwirrung musste deutlich zu erkennen sein. Ich nickte stumm. Und dann sagte ich mit leiser Stimme: »Vielleicht verübelte sie dir, dass du ihr Geheimnis kanntest. Es war ja nur ein Arztbesuch, damals. Wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher