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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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schönes Gefieder. Wir umarmten einander herzlich; ihre Mandelaugen strahlten mich an.
    »Du siehst umwerfend aus! Sag mal, bist du verliebt?«
    Chimie, die Magierin. Ich erwiderte ihr Lächeln.
    »Oh ja, und wie! Aber erzähl zuerst von dir! Wie war’s in New York?«
    »Eiskalt und stressig. Mein Boss hatte eine miserable Laune. Die Krise. Und in den USA ist der Frühstückskaffee ein absoluter Horror. Ich bin richtig froh, dass ich wieder da bin. So. Und jetzt will ich wissen, wie es dir in Lhasa ergangen ist.«
    Wir aßen Rösti, die in diesem Bistro goldgelb und wunderbar zubereitet wurden, und ich erzählte. Ich brauchte fast eine Stunde dafür. Chimies Mittagspause war schon fast um, als ich mich erschöpft und mit vollem Magen endlich zurücklehnte.
    »Du hast deinen Salat noch nicht aufgegessen«, sagte Chimie in vorwurfsvollem Tonfall.
    Ich stopfte hastig einige Tomatenscheiben in den Mund.
    »Ich bin noch nicht dazu gekommen.«

    »Wenn du die ganze Zeit redest …«
    »Ich habe dir noch mehr zu sagen.«
    »Über Kanam, hoffe ich?«
    Ich wurde ein wenig rot.
    »Ja … über Kanam.«
    Chimie sah auf ihre elegante Armbanduhr.
    »Gut. Ich habe noch vierzig Minuten.«
    Ich erzählte, wie Kanam und ich zueinandergefunden hatten. Und auch, dass wir uns liebten und uns niemals mehr trennen wollten. Dass wir zu Weihnachten Ferien in Sils Maria machen würden, in diesem wunderschönen Dorf im Engadin, dessen Landschaften an tibetische Hochtäler erinnerten. Und während ich erzählte, wurde mir bewusst, welch unermessliches Glück Kanam und mir doch beschieden war. Wir kamen beide aus einer entsetzlichen Welt, in der gefoltert und getötet wurde, noch heute, immerzu, jeden Tag, und wer weiß noch für wie lange. Das tibetische Volk war Opfer eines Systems geworden, das Freiheit versprach und den Einzelnen missachtete, eines Systems, das für Mitgefühl keine Verwendung hatte, weil Macht und Habgier eine größere Bedeutung besaßen. Aber das geschah ja immer wieder, überall auf der Welt; es war unerträglich und musste trotzdem ertragen werden, solange die einen das Leben achteten und die anderen nicht, solange die Menschen, noch unvollendet, unvollkommen, die Dunkelheit bewohnten statt das Licht. Und trotzdem war es falsch, Gewalt als die Normalität anzuerkennen, sich der Ungerechtigkeit zu fügen, nur weil es bequemer war, sich nicht einzumischen. Kanam und ich würden das nicht mitmachen, das stumme Schweigen, das schläfrige und amorphe Gefühl »Du kannst ja doch nichts ändern«. Wir würden Seite an Seite gehen mit allen anderen, die einsam, angsterfüllt und verzweifelt waren. Wir würden Aufruhr verursachen, viele Leute vor den Kopf stoßen, aber anders ging es ja nicht. Die Wandlung kommt immer, auch wenn sie viel Zeit braucht. Und immer
wieder würden wir zu dem Ort zurückfinden, an dem wir uns beschützt fühlten, geborgen und sicher: dem magischen Haus unserer Träume. Die Vorfahren waren ja bei uns, auf dem Regenbogen zwischen den Welten schwebend. Wir erkannten ihre Dauerhaftigkeit, und sie gaben uns ihren Segen, machten uns sicher und stark.
    »Mir geht deine Geschichte unter die Haut«, sagte Chimie.
    Ich erwiderte leise: »Manchmal, wenn Kanam und ich darüber reden, kommen uns die Tränen.«
    Sie warf ihr Haar aus dem Gesicht. Die Bewegung zeigte eine große innere Erregung.
    »Nein! Ihr dürft nicht traurig sein, sondern glücklich! Es gibt keine Tränen mehr, die ihr noch zu weinen hättet.«
    Sie sah zu dem Kellner hinüber und hob zwei Finger: Zwei Espressi, bitte!
    Ihr Tonfall wurde wieder ruhig. Auf ihrem Gesicht erschien ein feines Lächeln.
    »Wie kommt es, dass du die Dzi-Steine deiner Amla trägst?«
    Ich bewegte unwillkürlich die Hand, tastete in den Ausschnitt meines Pullovers.
    »Ach ja, du hast es bemerkt? Amla will, dass ich sie jetzt trage. Sie braucht die Steine nicht mehr, sagt sie, weil alle ihre Wünsche erfüllt seien.«
    Chimie blinzelte mir zu.
    »Hatte sie nicht geschworen, dass sie mit den Steinen bestattet werden wollte?«
    Ich erwiderte ihr Lächeln.
    »Seitdem Kanam da ist, hat sie ihre Meinung geändert. Weil die Linie ja nicht abgebrochen ist, sondern mit uns weitergeht …«
    »Du trägst die Steine jetzt an einer Kette?«
    »Es ging nicht anders. Das Band war so alt und zerschlissen, dass ich es aufschneiden musste.«

    Chimie rührte Zucker in ihre Tasse, nahm einen kleinen Schluck. »Die Kette ist eindeutig eleganter.«
    »Nicht wahr?«, rief ich lebhaft.
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