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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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zu erspähen.
    Alo hörte das Flugzeug als Erster, mit den geschärften Sinnen der Nomaden. Er hob plötzlich den Kopf und machte mit
der Hand ein Zeichen, das Sonam nicht deuten konnte. Doch im nächsten Augenblick hörte sie es auch. Ein Flugzeug, noch weit entfernt. Sie hielten die Pferde an, wahrend das Brummen näher kam. Aus seiner Gleichmäßigkeit ließ sich schließen, dass die Maschine einen geraden Weg flog. Alo und Sonam setzten ihre Tiere in raschen Trab, ritten auf einen Steilhang zu, der im Schatten lag, und warteten. Das Flugzeug näherte sich, behielt den Kurs bei. Sie sahen die Sonne auf dem hellen Rumpf blitzen, als die Maschine - ein Flugzeug der chinesischen Volksarmee - über ihre Köpfe hinwegzog und hinter dem Steilhang verschwand. Das Brummen nahm ab, das Flugzeug entfernte sich. Die Gefahr schien vorerst gebannt. Alo und Sonam nickten einander zu, bevor sie aus dem Schatten ritten.
    Sie trabten hügelabwärts, als die Maschine plötzlich wie ein donnerndes Gespenst hinter dem Steilhang wieder auftauchte. Sonam zog unwillkürlich den Kopf ein; ihr war, als ob das Flugzeug sie streifte. Das Dröhnen wirbelte die Luftmassen empor, bevor die Maschine mit pfeifendem Knall steil in den Himmel schoss.
    Sonam hörte, wie Alo ihr etwas zuschrie, verstand kein Wort, doch er hatte sein Pferd in den Galopp gejagt, und sie folgte ihm, atemlos, ohne jeglichen Gedanken. Sie bemerkte, dass er auf eine kleine Baumgruppe zuraste, die ihnen Deckung liefern konnte. Schon legte sich die Maschine auf einen Flügel, drehte ab, schien rückwärts zu fallen wie ein Stein. Und gleichzeitig verwandelte sich das schwere Beben der Motoren in ein Heulen, so misstönend, nahe und schrill, dass Sonams Pferd scheute. Sie hielt den Braunen mit aller Kraft, doch gelang es ihr nicht, das entsetzte Tier zu lenken. Ilha bockte und brach aus, in gewaltigen Sprüngen und mit wild verdrehten Augen. Alo riss sein Pferd herum, jagte im gestreckten Galopp zurück. Er beugte sich weit aus dem Sattel, packte die Zügel des Braunen, zerrte das wild ausschlagende Tier hinter sich her. Der
grüngelbe Rumpf des Flugzeugs drehte eine scharfe Kurve im Gegenlicht und fegte ihnen entgegen. Die Motoren kreischten dicht über ihren Köpfen. Ilha schüttelte sich, von krampfartiger Panik erfüllt, und schleuderte Sonam von seinem Rücken. Sie überschlug sich, rollte herum, tastete mit aufgeschürften Händen über den Boden, kroch auf allen vieren weiter. Das Flugzeug änderte wieder die Richtung, warf sich seitwärts herum. Alo wandte den Kopf, sah Sonam zwischen den Steinen kauern und raste im Galopp auf sie zu. Einer Riesenhornisse gleich fegte das Flugzeug heran. Der gewaltige Schatten flog über den Boden. Sonam sah aus den Augenwinkeln, wie Alo im vollen Galopp aus dem Sattel sprang und auf sie zurannte. Er warf sich über sie, drückte sie am Boden fest. Sonam vernahm ein helles Knattergeräusch, eine Abfolge von Explosionen. Die Schüsse pfiffen über ihre Köpfe hinweg, die Kugeln schlugen immer näher ein, warfen auf den Unebenheiten des Bodens kleine Erdgeysire auf, die als dünner Steinregen hochprasselten. Sonam lag mit der Wange am Boden und spürte, wie Alo sie mit seinem Gewicht niederdrückte. Die Kugeln flogen um sie herum, prallten mit spitzen Quietschlauten vom Geröll ab. Unvermittelt durchzuckte Alo ein heftiger Schüttelfrost, als hätten Muskeln und Nerven plötzlich versagt. Sein ganzer Körper schien im Rhythmus des Maschinengewehrs zu beben, während sich das Flugzeug seitwärts legte und über den Felshang abtauchte. Das Dröhnen entfernte sich im Talgrund. Dann wurde es langsam still. Sonam roch den herben Geruch von verbranntem Pulver und spürte den Geschmack von Blut in ihrem Mund. Sie musste sich irgendwo angeschlagen haben. Mühsam bewegte sie sich, richtete sich auf den Ellbogen auf. Alo lag schwer und unbeweglich auf ihr, wobei seine Arme sie immer noch so fest umfassten, dass sie sich kaum zu rühren vermochte.
    »Alo?«, flüsterte sie in der einkehrenden Ruhe. Er gab keine Antwort, doch auf einmal löste er seine Umklammerung, sodass
sie sich bewegen konnte. Sein Gesicht hing auf seltsame Art herab; Sonam sah, wie Blut aus seiner Nase tropfte.
    »Alo?«, wiederholte sie. Immer noch keine Reaktion. Sie drehte ihn vorsichtig auf die Seite, kroch unter ihm hervor. Er fiel schwer auf den Boden, sodass sie sein blutverschmiertes Gesicht sehen konnte. Seine Augen waren weit offen und auf sie gerichtet. Er sagte
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