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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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vorwärts, die Volksarmee war überall, in strengen Abteilungen organisiert, verbreitete Terror und Schrecken. Willkürliche Hinrichtungen und Volksgerichte gehörten zum Alltag. Auch im Gebirge waren die Gefahren zahlreich. Doch Menschen, die sich auskannten, konnten aus dem Anblick der Dinge ihre Schlüsse ziehen. Alo las in der Landschaft wie in einem offenen Buch. Entdeckte er das Mantra »Om mani padme hum« in den Stein gemeißelt, verflochtene Schlangen oder vier- oder achtblättrige Lotosblüten an eine Wand gemalt, waren die Abbildungen unversehrt und die Farben sauber, konnte er sich in Sicherheit fühlen. Waren die Gebetssteine zerschlagen, die heiligen Darstellungen mit Exkrementen bestrichen oder mit Sprüchen der Revolution beschmiert, war äußerste Vorsicht geboten. Ja, selbst den Klöstern musste man misstrauen. Auch wenn sie von außen unbeschädigt wirkten, konnten die Soldaten alle Mönche getötet oder verschleppt haben, bevor sie die Klöster plünderten und als Unterkunft benutzten.
    Offenes Gelände suchte Alo stets mit dem Feldstecher ab. Er ging methodisch und sehr geduldig dabei vor. Er orientierte sich an Berggipfeln, an Wasserläufen oder an Tierspuren. Nachts wiesen ihm die Sterne den Weg. Sonam fühlte sich bei ihm geborgen, vollkommen in Sicherheit. Sie kamen sich näher in dieser Zeit, viel näher, als sie es jemals vorausgesehen hätten, schlossen sich zusammen wie zwei vom Leben verwundete Geschöpfe, vereinten ihre geheimen Schmerzen in Zuneigung zueinander.
    Alo war nie ein Mann vieler Worte gewesen. Doch Sonam gegenüber zeigte er sich nicht verschlossen. So kam es, dass
er ihr von seiner Frau Yudon erzählte, die er vor zwei Jahren verloren hatte; die Pocken. Er kämpfte damals in Batang und war zu spät gekommen, um sie vor ihrem Tod noch einmal zu sehen. Man hatte ihm gesagt, sie sei völlig entstellt gewesen, was er nicht glauben konnte oder wollte. In seiner Erinnerung trug er das Bild ihrer unversehrten Schönheit.
    »An wem sonst hängt heute dein Herz?«, fragte ihn Sonam.
    Da lächelte er versonnen.
    »Ich habe eine kleine Tochter, Tseyang. Ein wundervolles Kind!«
    »Wo ist sie?«
    »Bei der Schwester meiner Mutter. Ich kann ihr mein Leben nicht zumuten.«
    Alo hatte seine junge Frau sehr geliebt. Umso mehr hing er an seinem Töchterchen. Er sprach oft von Tseyang, erzählte, wie klug und stark das kleine Mädchen für ihr Alter schon war. Dabei lachte er leicht vor sich hin, schüttelte den Kopf, als ob er sich wunderte, dass es ein solches Kind überhaupt gab. Sie war ein Teil von ihm, aber auch ein Teil von Yudon, die Verkörperung einer verlorenen Liebe.
    Für Alos Träume war Sonam die richtige Gefährtin. Auch in ihrem Innern tobte dieser Widerstreit zwischen Lebenswillen und Lebensmüdigkeit. Und wenn ein Mann und eine Frau in enger Gemeinschaft leben, entdecken sie ihre Gefühle, so oder so. Jeder spürte die Seele des anderen, und als die Liebe über sie kam, war es für beide nicht einmal eine Überraschung. Alo ging so behutsam vor, wie er es nur vermochte. Sonam hatte entsetzlich gelitten. Ihre Bandscheiben waren beschädigt, der Ischiasnerv entzündet, was ihr bei längerem Reiten zunehmend Schmerzen bereitete. Auch ihre Brüste wiesen Spuren von Verbrennungen auf, verursacht durch Zigaretten. Sie war so oft und so brutal vergewaltigt worden, dass es zu erheblichen Verletzungen des Bindegewebes gekommen war. Doch ihr Geist war vollkommen klar, ruhig und stabiler, als Alo es
je für möglich gehalten hätte. Ihr ganzer verstümmelter Körper dürstete nach Liebkosungen. Er entdeckte, dass es ihr am wenigsten Schmerzen bereitete, wenn er sich auf den Rücken legte, sodass sie auf ihm war und er ihre kleinen Brüste umfassen, ihren unversehrten flachen Bauch berühren konnte. Er wurde nicht müde, sie dabei zu betrachten. Sie erwiderte seinen Blick mit Augen, die scharf und traurig auf ihn herab sahen. Augen, die das Böse gesehen hatten, es nicht vergessen konnten, und trotzdem so voller Sehnsucht waren. Es war ein Sturm der Angst, der sie durchweht hatte, jahrelang. Die Schmerzen von gestern konnte sie vielleicht vergessen, die Narben jedoch blieben, und dagegen vermochte auch Alo nichts auszurichten. Er brachte sie gelegentlich dazu, ihm ihren Rücken zuzukehren, diese abstoßende Stelle an ihrem Körper, die er mit den Fingerkuppen streichelte, sacht, ganz sacht, weil ihr Fleisch noch so empfindlich war. Einmal berührte er versehentlich mit dem
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