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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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knöpfte stumm ihr Hemd auf. Die Art, wie sie es tat, zeugte von absolutem Vertrauen. Er nahm behutsam den Verband ab. Die Schwellung ging zurück, auch die Röte nahm ab. Alo bestrich die Wunde mit frischer Salbe und knotete den Verband wieder fest.
    »Kein Fieber mehr?«
    Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Und der Braune? Hat er immer noch Angst?«
    Das Lächeln verblieb auf ihrer Wange.
    »Ich brachte ihm Salz. Und er hat das Salz geleckt. Aus meiner Handfläche. Es wird nicht lange dauern, bis er sich an mich gewöhnt.«
    Sie schien mit einer unerschöpflichen Geduld ausgerüstet und sich ihres Erfolgs ganz sicher zu sein.

    »Du kennst dich gut aus«, sagte er.
    »Ich hatte immer ein Pferd. Ein eigenes.«
    Ihr direkter Blick verwirrte ihn, und er wandte die Augen ab. Er musste nachdenken. Einen Entschluss hatte er noch immer nicht gefasst. Er zog seine indischen Zigaretten aus der Hemdtasche und bot ihr eine an. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Er kramte nach Streichhölzern, betont langsam, schützte die kleine Flamme in der hohlen Hand und zündete sich dann die Zigarette an.
    »Was hast du vor?«, fragte er schließlich.
    Sie hatte längst Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.
    »Ich reite nach Tingri und kaufe mir einen Pilgerpass, mit dem ich über die Grenze komme.«
    »Tingri ist ein militärischer Stützpunkt. Es gibt viele Kontrollposten.«
    »Ich werde Leute finden, die mir helfen.«
    »Und was, wenn du ausgeraubt wirst?«
    Sie antwortete kühl.
    »Ach, viel kann mir dabei nicht passieren.«
    Alo stieß den Rauch durch die Nase.
    »Und wenn ich dich nach Indien brächte?«
    Sie starrte ihn an.
    »Warum würdest du das für mich tun?«
    Er zögerte mit der Antwort. Ich bin verrückt, dachte er.
    »Mein Vater würde es tun«, sagte er dann.
    »Wo ist er jetzt?«, fragte sie.
    »Tot«, sagte Alo dumpf.
    »Die Volksarmee?«
    Alo betrachtete seine glimmende Zigarette.
    »Er war viele Jahre lang ›Gap‹ der Rebellen. Sein Name war Kanam. Die Chinesen fürchteten ihn sehr.«
    Sie antwortete nachdenklich.
    »Einmal traf meine Mutter einen Gap, der so hieß. Sie war
noch sehr jung damals - jünger als ich es heute bin - und ritt mit ihrem Vater in die Berge. Tenzin, mein Großvater, war Arzt und heilte mit Steinen. Kanam führte ihn zu einer Türkismine, zum Dank dafür, dass er seinen kleinen Sohn gerettet hatte. Mutter selbst erhielt diese Dzi-Steine als Geschenk.«
    Sie wies mit dem Finger auf ihre Kette und hielt erstaunt inne. Alos Gesicht war starr geworden, seine Lippen fast weiß.
    »Was sagst du da? Dein Großvater war Arzt?«
    »Ja, ein sehr berühmter sogar. Alle Leute kannten ihn.«
    Er fragte heiser: »Entsinnst du dich an den Namen des Kindes?«
    Sie seufzte.
    »Ich glaube, er hieß Alo, wie du. Aber ich kann mich irren. Es ist schon so lange her. Und ich weiß auch nicht, wo meine Mutter ist und ob sie überhaupt noch lebt.«
    Sie sah verwirrt in Alos Gesicht. Seine Augen waren auf die Dzi-Steine gerichtet, die im gleichen Kupfergold wie ihre Haut schimmerten. Er antwortete halb unbewusst, als ob ihn die Empfindung, die ihm der Anblick eingab, zu tief und zu heftig bewegte.
    »Ja, jetzt entsinne ich mich! Es sind die Steine, die man ›Pferdeaugen‹ nennt, die mächtigsten von allen! Die Steine hat meine Mutter Tesla getragen, und vor ihr wiederum ihre Mutter.«
    Sonam starrte ihn mit einem faszinierten Blick an.
    »Dann bist du der kleine Junge, der geheilt wurde?«
    Alo antwortete nur mit einem Kopfnicken. Sprechen konnte er nicht, sein Innerstes zog sich zusammen. Er kämpfte mit aller Kraft gegen den Schmerzausbruch, der ihn schüttelte. Vergeblich bemühte er sich, die Tränen zurückzuhalten, die sich unter seinen Lidern ansammelten. Er schloss die Augen, blass und stumm, wandte den Kopf ab, und die Tränen liefen ihm über die Wangen. Weder er noch Sonam rührten sich, eine ganze Weile lang. Dann spürte Alo eine Bewegung neben
sich. Eine kleine, rissige Hand schob sich in seine Hand, bevor er dicht neben sich die Stimme der jungen Frau vernahm. Und obwohl diese Stimme erstickt und immer noch ohne Modulation blieb, oder vielmehr gerade deswegen, erschien sie ihm wie ein natürliches Echo des Windes und der Gräser.
    »Wenn wir zu den Dzi-Steinen die richtigen Worte sprechen, schenken sie uns ihre Kraft.«
    Er trocknete die Augen mit den Fingern, wandte ihr das Gesicht zu und fragte, wie aus einem inneren Zwang heraus: »Kennst du die richtigen Worte?«
    Sie sah zu ihm
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