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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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Fingernagel die kaum vernarbte Wunde; da ließ sie ein ersticktes Stöhnen hören. Alos Herz begann in diesem Moment heftig zu schlagen. Er war beschämt und erschrocken und beruhigte sich erst, als sie den Kopf ein wenig drehte und ihn über ihre Schulter hinweg anlächelte. Er ließ sie stets den Rhythmus bestimmen, verlor sich in ihr, ein langsames, seliges Gleiten, in dem nichts von Knechtschaft war. Er fühlte ihre tastenden Hände noch im Traum nach ihm greifen, während er wach blieb, durch ihre Lungen atmete, in ihrem Haar den Hauch der Erinnerungen suchte.
    Die Gewissheit in ihm wuchs, dass sein Leben ohne sie keinen Sinn mehr hatte. Bisher hatte Alo alle Gedanken an die Zukunft stets von sich gewiesen. Je näher sie nun ihrem Ziel kamen, desto intensiver dachte er darüber nach. Es mochte damit zusammenhängen, dass sein Schicksal auf sonderbare Weise mit dem ihren verstrickt war. Dieses Bewusstwerden löste in Alo eine seltsame Herzensangst aus. Er sah für sie beide keine Zukunft. Er war wie sein Vater ein Kämpfer, hatte
eine Aufgabe zu erfüllen. Setzte er sich mit Sonam nach Indien ab, würde er ein Leben führen müssen, für das er nicht gemacht war: das Leben eines Entwurzelten, eines Flüchtlings eben, auf das Wohlwollen der Behörden oder anderer Menschen angewiesen. Vielleicht würde er in einer Werkstatt arbeiten oder betteln oder sich mit Drogenhändlern einlassen, um zu überleben. Kann der Wolf sein Fell wechseln?, dachte Alo bitter. Fällt der Regen nach oben? Wächst das Gras nach unten? Für das Leben eines Flüchtlings taugte er nicht, selbst wenn er Sonam über alles liebte und bei ihr sein wollte. Er musste dort sein, wo man das frische Gras und den Yakmist riechen, wo man immer ein Pferd besteigen, kämpfen und jagen, wo er die Sterne mit dem Gewehr treffen konnte. Er gehörte in ein Land, in dem der Boden vor Energie wirbelte, wo er die Bewegung der Erdkruste spüren konnte. Wo sein Körper sich mit den Elementen verband, mit der Sonne, dem Mond, dem Schnee und dem Wind. Er gehörte in die Welt der Sagentiere, der Gebetsfahnen, der großen Hörner und der beschrifteten Steine. Er trug Bilder in sich, Gerüche und Eindrücke, die zu ihm gehörten, die unter seiner Haut lebten und pulsierten wie das Blut in seinen Adern. Das alles war ihm vollkommen bewusst, ebenso wie ihm bewusst war, dass die Zeit unwiederbringlich vorbeiging, dass er Sonam nicht verlassen konnte und sie doch verlassen würde. Er wollte sich an den Gedanken der Trennung gewöhnen, mit der ganzen Kraft seiner Logik. Und hoffte dabei auf ein Wunder.
    Sie sprachen viel miteinander in dieser Zeit, schnell und leise und verständnisinnig. Sie ahnten, dass sich ihre Erinnerungen bald in Schatten verwandeln würden. Doch von diesem Schatten sprachen sie nicht; sie hätten ihn nicht benennen können. Sie tauschten Zärtlichkeiten aus, die so alt waren wie der Anfang der Welt und immer fremd und wunderbar, weil jeder Mensch sie neu erschuf. Alo verstand es, die Schmerzen aus Sonams Körper zu vertreiben, in Glück umzuformen, in
Seligkeit. Sie wurde für ihn weit offen, empfindsam und vibrierend. In den Wogen der eigenen Lust vergaß er manchmal, dass man sie gefoltert hatte, denn sie widersetzte sich nie, stürzte sich in die Liebe wie ein Fisch in dunkle Gewässer. Das waren die Augenblicke, in denen Alo glaubte, er hätte keine andere Heimat mehr als nur die Liebe zu ihr. Und so stillten sie ihr Begehren, erschöpften sich in Umarmungen, die ihren Körper ermüdeten, ihre Seele aber stärkten und ohne ihr Wissen für die Trennung bereit machten.

SIEBENUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
    I n langsamem Anstieg kamen sie weiter hinauf, ritten dem Sabo-La-Pass entgegen, wo der Berg das ganze Jahr über vereist, verschneit und glatt war. Wo der Körper geschwächt wurde und das Denken genau wie die Finger und Zehen erfror. In zahllosen Windungen führte der Pfad bergauf, wurde steiler. In bleigrauen Schichten schoben sich Wolken über die Hochtäler. Die Pferde reckten die samtene Nase in den Wind, schnüffelten aufmerksam und krümmten den Rücken.
    »Sie riechen den Schnee!«, sagte Sonam.
    Der Pass in fünftausend Meter Höhe war die Welt des ewigen Winters. Die Temperatur fiel ständig, der Wind heulte gespenstisch und dauerhaft, ein Wimmern und Schluchzen und Klagen. Die ersten Flocken fielen, zuerst vereinzelt, dann immer zahlreicher, und es dauerte nicht lange, bis sie mitten im Schneetreiben waren. Alo ritt voraus, Sonam folgte
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