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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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jedoch kein Wort.
    »Bist du verletzt?«, fragte sie.
    Endlich bewegten sich seine Lippen.
    »Ich … ich weiß es nicht.«
    »Hast du Schmerzen?«
    Er blieb stumm. Im Ausdruck seines Blicks war kein Sinn zu erkennen.
    »Alo?«
    Statt einer Antwort quoll ein langer Blutfaden aus seinem Mund. Als sie behutsam versuchte, ihn aufzurichten, stieß er eine Art heiseren, durchdringenden Seufzer aus: der Klagelaut eines Mannes, der nicht zu klagen gewohnt ist. Und gleichzeitig vernahm Sonam ein seltsames Geräusch, als ob ein Knochen in seinem Rücken zersplitterte. Sie starrte ihn an, mit weit aufgerissenen Augen. Sie konnte nicht, sie wollte nicht wahrhaben, dass er tödlich verletzt worden war, als er ihr Leben mit seinem eigenen Körper schützte. Ein dünner, entsetzter Schrei entfuhr der jungen Frau, als sie das Ausmaß seiner Verletzungen erkannte. Sie stammelte das Erste, was ihr in den verwirrten Sinn kam.
    »Ich … ich muss Hilfe holen!«
    Aber Hilfe von wem, und wo? Alos Augen waren schon gebrochen. Er lag betäubt und benommen im Schraubstock der Qualen. Jedes Wort kostete ihn unendliche Mühe.
    »Ich bin kalt … bis zu den Ellbogen. Lass mich … deine Hand fühlen, Sonam.«
    Sie legte ihre Hand auf seine Brust und erschauerte, als sie die feuchte Kälte spürte.

    »Fühlst du mich?«
    »Nein.«
    Er zitterte zunehmend stärker. Sie stöhnte leise auf, von unermesslichem Schrecken erfüllt.
    »Hast du Schmerzen?
    »Ja … jetzt, ja.«
    Sie schluchzte ganz leicht, tränenlos.
    Er flüsterte: »Du musst … sofort … reiten. Die Grenze ist nicht weit. Zwei Tage von hier. Südwärts. Du wirst an einen Fluss kommen. Geh nicht … über die Brücke! Kontrollposten … Reite über die Sandbänke. Aber nicht, wenn es hell ist. Nachts!«
    Sie schüttelte heftig den Kopf.
    »Ich bleibe bei dir.«
    »Sonam … es hat keinen Sinn.«
    Ein Schauder durchlief ihn. Grünliche Blässe überzog sein Gesicht.
    »Ich … ich habe große Schmerzen jetzt. Sie … werden schlimmer. Du hast deine Pistole, nicht wahr?«
    Sie fühlte, wie sich ihre Gesichtszüge spannten und hart und spröde wurden.
    »Alo! Nein!«
    »Du hast eine Kugel.«
    Sie packte seine unversehrte Hand und ließ sie wieder los; er hatte ihren Händedruck nicht im Geringsten erwidert.
    »Nein!«, keuchte sie. »Ich kann es nicht!«
    »Tu es, Sonam, warte nicht mehr!«
    »Nein!«
    Alos Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Er stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor.
    »Sonam, ich liebe dich.«
    Sie ließ den Kopf zur Seite sinken - eine hoffnungslose Bewegung allgemeinen Verneinens. Dann hob ein schwerer Seufzer ihre Brust.

    »Alo?«
    »Ja?«
    »Wie … mache ich das?«
    »In den Mund. Aber lege … deinen Schal auf mein Gesicht. Es … sieht nicht schön aus!«
    »Ich kann nicht!«
    »Bitte, Sonam!«
    Sie tastete nach der Pistole, entsicherte sie.
    »Sonam … sieh mich nicht mehr an … danach. Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Mit der Linken griff sie nach dem Schal, der nass von seinem Blut war. In der rechten hielt sie die Pistole. Alos Gesicht verzerrte sich, sein Atem ging tief und röchelnd.
    »Jetzt, Sonam!«
    Sie beugte sich über ihn, legte ihren Mund auf den seinen, schmeckte auf ihren eigenen Lippen den salzigen Geschmack seines Blutes. Er schloss halb die Augen, deutete ein Lächeln an.
    »Danke«, flüsterte er.
    Sie legte den Schal auf sein Gesicht. Ihre tastende Hand hielt die Pistole, bewegte die Mündung behutsam unter dem Stoff. Dann richtete sie sich ein wenig auf, holte tief Atem. Ihre Hand war fest, als sie auf den Abzug drückte, bevor der Rückschlag der Waffe ihr das Gleichgewicht nahm. Sie sank zurück, auf die Fersen. Die rauchende Waffe entglitt ihren Fingern und fiel in den Sand. Der gedämpfte Schuss hallte in ihrem Kopf wider, in den Knochen, in den Adern, in jeder Zelle ihres Körpers. Alo spürte diesen Widerhall wie ein fernes, wirbelndes Echo, das sein Leben davontrug und sich im Dunklen verlor.

EPILOG
    E s war das erste Mal, dass wir uns trafen, seit Chimie aus New York zurück war. Wir hatten uns in einem Bistro am Bellevueplatz verabredet. Chimie wollte Rösti essen. Sie hatte stets einen gesunden Appetit, der gar nicht zu ihrem elfenhaften Aussehen passen wollte. Sie sah wie immer wunderschön aus, im dunkelgrauen Business-Anzug und mit für das Matschwetter völlig unpassenden Stilettos, die sie einen Kopf größer machten als mich. Ihr grünlich schillerndes Haar wippte auf ihren Schultern wie ein
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