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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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empor und presste seine Hand. Ein seltsames Lächeln, kaum angedeutet, verklärte ihre Züge wie von innen her, während sie sanft und leise die Worte aufsagte.
    »Wie das Blut, so rot
    Wie die Erde, so braun
    Wie die Sonne, so gelb
    Steine, erfüllt meinen Wunsch!«
    Der Abendwind strich kalt über Alos nasses Gesicht. Er holte gepresst Atem, bevor er stockend fragte: »Als du … als du gefangen warst … hast du die Worte aufgesagt?«
    Sie senkte die Augen. Dann hob sie den Blick wieder und bezog ihn in ihr Lächeln ein. Seine fiebrigen Augen begegneten den ihren. Es war, als ob sie einander ein Versprechen gaben, einem sehr gewichtigen Bündnis gleich.
    »Immer«, flüsterte sie. »Jeden Tag.«
    In diesem Augenblick fasste Alo seinen Entschluss. »Ich werde dich nach Indien begleiten. Ich reite zurück, sobald ich dich in Sicherheit weiß. Aber nicht vorher!«
    Sie packte seine Hand noch fester. Ein Wort, das sie seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen hatte, kam über ihre Lippen. Leise stieß sie hervor: »Ich danke dir!«
     
    Der Braune schien seine Wildheit abgelegt zu haben. Bald verlor er seine Furcht vor Zaumzeug und Zügel, denn er hatte
beides bereits gekannt und erinnerte sich, dass es ihm nicht schadete. Sonam musste ihn vorerst ohne Sattel reiten, aber es machte ihr nichts aus. Alo wurde nicht müde, sie zu beobachten - ihre geschickten, sicheren Bewegungen und die Ruhe und Leichtigkeit, mit der sie mit dem Braunen umging. Als Sonam ihn zum ersten Mal ritt, zitterte und bockte er so heftig, dass Alo befürchtete, sie würde wieder abgeworfen. Doch sie schien jede Bewegung des Tieres vorauszuahnen und fing jeden Sprung schon im Ansatz durch eine Gegenbewegung auf. Der Braune verfügte über ein feuriges Temperament und starken Kampfgeist, aber nach schon zwei Tagen hatte er Zutrauen zu seiner Reiterin gefasst und lief glatt und gut.
    »Magst du das Pferd?«, fragte Alo.
    Sie strich ihr Haar aus dem Gesicht.
    »Ja, es ist ein treues Pferd.«
    »Treu? Es hat dich abgeworfen!«
    »Das war mein Fehler.«
    Sie verstanden sich. Von Tag zu Tag hatte ihre Freundschaft mehr Tiefe, mehr Wirklichkeit und gleichsam eine neue Substanz gewonnen.
    »Du musst ihm einen Namen geben«, sagte er.
    Sie richtete ihre Augen, die wirklich sehr schön waren, dunkel und strahlend, auf ihn.
    »Ich werde ihn Ilha - Gott von oben - nennen. Weil ich ihm auf einem Berg begegnet bin.«
    Er lächelte, und dieses Lächeln gab seinen Zügen ein fast jungenhaftes Aussehen.
    »Eine gute Wahl«, meinte er. »Das ist ein starker Name für ein starkes Pferd!«

SECHSUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
    B evor sie sich auf den Weg machten, versteckte Alo sorgfältig Gewehre und Munition. Sonam half ihm, die Pakete festzuschnüren und sie zwischen Decken und Fellen unter Felsvorsprünge zu schieben. Hier waren die Waffen in Sicherheit. Erst als Alo und Sonam alle Spuren ihres Lagers verwischt hatten, ritten sie los.
    Im Morgenlicht schimmerten die hohen Schneefelder rosa und nahmen dann eine rein weiße Farbe an, sobald die Sonne stieg. Die Luft war wie klirrendes Glas. Zwei Lämmergeier glitten dicht über den Hang, auf der Suche nach Beute. Knorrige Birken und Blaufichten wuchsen steil und kräftig, aus ihren schlüpfrigen Rinden tropfte das Harz wie Gold. Im Sonnenlicht sahen die Reiter die Wildpferde friedlich auf der Bergweide grasen, bevor das Bild verschwand und in ihnen ein Gefühl unbestimmter Leere und Sehnsucht hinterließ. Die Pfade zu den höheren Tälern waren steil. Dann und wann erhob sich in der Einsamkeit ein »Lhartsen«, ein Steinhaufen zu Ehren der Götter. Gebetsfahnen, zerfetzt von Wind und Regen, hingen an Stangen. Auch Sonam und Alo legten einen kleinen Stein auf das Heiligtum und baten die Gottheiten um Schutz. Selten begegneten sie den Spuren anderer Menschen. Früher hatte es keine Vorschriften, kein Gesetz gegeben, das die Händler, die Viehtreiber, die Nomaden und Schüler Buddhas daran gehindert hätte, sich wann immer sie wollten auf Wanderschaft zu begeben. Das war jetzt vorbei: Soldaten bewachten Straßen und Wege, sahen alles, kontrollierten alles. Blickte man weit
über die Täler hinaus auf Dörfer, schien die Welt kaum verändert zu sein. Doch über den Lehmdächern wehten keine Gebetsfahnen mehr, lediglich rote Fahnen. Der Wind trug keine fernen Stimmen mehr über das Tal, kein Krähen der Hähne, kein Meckern der Ziegen. Die Chinesen hatten alle Haustiere getötet. Lange Reihen von Lastwagen schoben sich
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