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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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schöner als ich; ihre Haare fielen wie schwere Seide und waren oberhalb der Brauen, die kräftig gezeichnet und nach außen hochgezogen waren, gerade geschnitten. Ihre Augen waren tief und scharfsinnig, und sie hatte ein lebhaftes Mienenspiel.
    Als wir in der Sushi-Bar an der Theke saßen, schaute sie mich an, lächelnd und entspannt. Es war nach der Arbeit. Sie erklärte mir, dass die Japaner sich - nein - nicht täglich von Sushi ernährten. Eigentlich sei Sushi das Gericht, das sich die japanischen Frauen ins Haus bringen ließen, wenn sie nicht kochen wollten. Chimie hatte immerhin zwei Jahre in Tokio gelebt und wäre gern länger dort geblieben. Aber sie hatte noch ihre Eltern in der Schweiz, dazu Geschwister, Cousins, Onkel und Tanten. Die Großfamilie eben, die ich nicht hatte.

    »Warte«, sagte sie, »ich suche den Fisch für dich aus. Du kannst hier nicht jede Fischsorte essen. Zürich liegt nicht am Meer, und manche Fische haben schon tote Augen.«
    Ich musste lachen. Chimie hatte eine drollige Art, in der sie die Worte zusammenbrachte. Dabei kam sie mir oft viel erfahrener und klüger vor als ich. Das Problem, das mich beschäftigte, war derart komplex, dass ich mit jemandem darüber sprechen musste. Ich konnte ja nicht so tun, als bräuchte ich nur einen Zauberspruch aufzusagen, und die Sache wäre verschwunden. Mir war, als sei ich für immer in Unruhe versetzt worden.
    »Du siehst müde aus«, stellte sie fest, als wir unsere Sushi-Schälchen vom Fließband zogen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Meine Mutter macht mir Sorgen«, sagte ich.
    »Hast du dich mit ihr verkracht?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, womit ich beginnen sollte. Chimie sah mich von der Seite an, abwartend, aber rücksichtsvoll schweigend. Als ich mit erstickter Stimme sprach, spürte ich wieder dieses unbeschreibliche Entsetzen. Und gleichzeitig tat es mir gut, über die Sache zu reden.
    »Und seither bin ich unschlüssig, wie ich mit ihr umgehen soll. Es ist so ungeheuerlich! Und dazu hat sie sich in mein Privatleben eingemischt und ziemlichen Unfug angerichtet. Sie hat Felix praktisch aus der Familie geworfen. Ich konnte gar nichts tun; er war so beleidigt. Und was nun? Ich kann doch nicht weitermachen, als sei nichts geschehen!«
    Chimies Blick drückte viel Verständnis aus.
    »Nein«, sagte sie, »das wäre nicht ehrlich. Du musst ehrlich sein, Dolkar. Bist du es nicht, spürt es die Amla sofort.«
    »Ach«, jammerte ich, »was soll ich denn bloß machen?«
    Chimie stellte mit geübtem Griff eine Portion Sushi mit gegrilltem Rotbarsch vor mich.
    »Da, probier mal«, sagte sie. »Ich glaube, der ist frisch.«

    Ich nahm behutsam die Portion Reis zwischen die Stäbchen. Sie sah zu, wie ich kostete.
    »Gut, nicht wahr?«
    Ich nickte. Chimie zog ein weiteres Schälchen zu sich.
    »Eigentlich lieben es ältere Leute, von der Vergangenheit zu erzählen. Bloß dann nicht, wenn sie zu viel mitgemacht haben. Ich nehme an, sie denken, dass wir sie sowieso nicht verstehen können. Sie meinen das wirklich, obwohl es albern klingt. Auch meine Eltern sprechen selten von ihrer Flucht. Sie hatten alles verloren und kamen wie Bettler in Indien an. Mein Vater sagte oft, dass unser eigenes Leiden gemindert werden kann, indem wir uns die Leiden anderer Menschen vorstellen. Das sind noble Gedanken. Sie passen zu unseren Eltern, zu ihrer Generation. Ich an ihrer Stelle würde zornig und frustriert sein. Das ist nicht sehr buddhistisch, das gebe ich zu. Aber wir sind anders. Hat deine Amla dir von früher erzählt?«
    »Aber sicher. Und oft und immer wieder. Wie sie bei der Großmutter auf die Eltern warteten, die in Indien waren und nie zurückkamen. Wie die Rotgardisten sie in ein Lager verschleppten.«
    »Wie alt war sie damals?«
    »Sonam war elf, ihr Bruder Kelsang ein Jahr jünger. Ihre Schwester Lhamo war schon fünfzehn oder sechzehn; Sonam weiß es nicht mehr genau. Ihre Eltern waren mit einem chinesischen Ehepaar befreundet. Die hatten versprochen, sich um die Kinder zu kümmern. Aber irgendetwas ging schief. Jedenfalls kam ein Lastwagen und brachte die Kinder fort. Sie lebten fünf Jahre im Arbeitslager, mussten Steine für den Straßenbau schleppen. Sie bekamen kaum zu essen, wurden geschlagen und misshandelt. Sonam sagte, dass mit jedem Tag ihre Kräfte ein wenig schwanden, bis der seelische Widerstand einen Ausgleich schuf. Rebellisch, wie sie war, schien sie sich oft in die Nesseln gesetzt zu haben. ›Ich hatte
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