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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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hat mich nie akzeptiert«, sagte er.
    »Aber das ist doch lächerlich!«
    Er drehte sich zu mir um. Seine Augen zogen sich leicht zusammen. Ich kannte diesen Blick. Abwechselnd vermied er, mich anzusehen, und betrachtete mich dann wieder mit intensivem Blick.
    »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte er. »Du lebst in Symbiose mit deiner Familie. Ein Clan-Denken, das ist es und nichts anderes. Du hast es wahrscheinlich selbst nicht gemerkt.«
    »Ich lebe doch allein!«, rief ich.
    »Gewiss. Aber die Familie ist immer da, im Hintergrund.«
    Was sollte das heißen? Dass ich unfähig war, aus der Reihe zu tanzen? Das war doch dumm, das hieße, nicht mehr zu denken, oder vielmehr so zu denken, dass es aufs Nichtdenken hinauskam.
    »Hör mal«, widersprach ich wütend. »Wie kommst du darauf
? Ich bin ohne Geschwister groß geworden, und mein Vater ist tot. Der Bruder meiner Mutter lebt in Rikon als Mönch. Sie hat noch eine ältere Schwester in Lhasa, zu der wir überhaupt keinen Kontakt haben. Ein paar ferne Verwandte sind auch noch da, die wir höchstens zweimal im Jahr sehen. Und wenn du mich fragst, wie die heißen, muss ich zuerst nachdenken.«
    »Ich rede von einem Clan-Denken im geistigen Sinne«, beharrte er auf seinem Standpunkt. »Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber das steckt in dir und hat mit deiner tibetischen Herkunft zu tun.«
    Und ich erinnerte mich. Da war eine Sache, die ich verdrängt hatte, tief unten im Dunklen verborgen, im Hintergrund meines Denkens. Jetzt kam sie wieder ans Tageslicht, jetzt musste ich sie in einem Vergrößerungsspiegel betrachten. Diese Erinnerung war immer bei mir gewesen, unausgesprochen. Sie ließ sich nicht überspielen oder beschönigen und hatte mit meiner Mutter zu tun. Es war nur ein kurzer Satz gewesen, den sie über Felix gesagt hatte, aber ihr Gesicht war seltsam dabei erstarrt; und danach hatte ich es niemals geschafft, nicht mehr daran zu denken.
    »Er ist nett, aber ich werde nicht oft kommen, wenn er da ist. Ich mag seinen Geruch nicht.«
    Im Nachhinein schien mir, dass ich ihre Bemerkung kaum beachtet hatte. Aber irgendwie mussten die Worte in mir gewirkt haben. Ich war Felix bitterböse, weil er recht haben konnte. Tibeter, die wie ich im Exil geboren sind, sind nicht innerlich gespalten und ein bisschen taumelig wie so viele Entwurzelte. Für diese mag es eine Welt von Werten, von falschen Werten, von Unwertem geben. Wir aber leben in einer Welt, die zu uns gehört, die wir ohne Zwänge und Romantik verstehen. Trotzdem sind wir gläubige Buddhisten, gießen jeden Morgen frisches Wasser in die sieben kleinen Schalen auf dem Hausaltar, zünden die sieben Lichter vor der Buddhastatue an.
Sind es elektrische Lichter, hat das überhaupt nichts zu bedeuten. Wir legen die Hände zusammen, sprechen das kurze Gebet, mit dem jeder Tag beginnt. Und das ist alles. Wir leben im Hier und Jetzt, ohne religiöse Neurosen. Was Felix gesagt hatte, schockierte mich. Clan-Denken, was war das überhaupt? Ich war mit meiner Familie durch den Klang und die Wärme der Kindheit, durch unaussprechliche sinnliche Erinnerungen verbunden. Und das andere? Ich spürte auf einmal ein schlechtes Gewissen. Meine Mutter hatte stets an meinem Leben teilgenommen. Sie gehörte dazu. Hatte ich ihr meine Eigenständigkeit geopfert? Das Zusammenwirken von Spontaneität und Vernunft, das bisher mein Stolz und meine Stärke war, wurde erschüttert. Ich sträubte mich zornig und schuldbewusst und sagte zu Felix: »Ich kann dir nicht glauben!«
    Er nahm es gleichmütig hin.
    »Du solltest es aber glauben.«
    Es hatte also an Sonam gelegen. Sonam, die für gewöhnlich nicht redselig war. Die vom Schweigen lebte und mich immer reichlich damit bedacht hatte. Mit diesen paar Worten hatte sie mich von Felix getrennt. Ich hatte danach keine Lust mehr gehabt, mit ihm zu schlafen. Weil ich Mutter mehr vertraut hatte als der eigenen Liebe.
    »Scheiße!«, murmelte ich.
    Er seufzte.
    »Es tut mir leid, Dolkar.«
    Mir wurde auf einmal der Abstand bewusst, der uns trennte. Der Schatten meiner Mutter stand zwischen uns. Ich sagte mit matter Stimme: »Möglicherweise liegt der Fehler bei mir. Ich bin Einzelkind. Das ist bequem, aber bisweilen auch unpraktisch.«
    Er lehnte sich leicht zurück.
    »Erzähl mir von deiner Mutter.«
    »Wozu? Du kennst sie doch.«
    »Ist es dir unangenehm, von ihr zu sprechen?«

    »Nein, durchaus nicht. Aber ich möchte wissen, warum ich dir von ihr erzählen soll.«
    »Dolkar,
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