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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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festhalten. Ich wankte zur Tür, zog den Riegel auf. Meine Mutter trat ein, schnell, geschäftig, geräuschlos.
    »Kind, wie siehst du aus? Dich hat es ja böse erwischt!«
    Sie hatte für mich eingekauft und sagte, dass sie für mich kochen würde. Ich wollte ihr die Taschen abnehmen, aber sie stieß mich weg.
    »Verschwinde! Leg dich hin. Ich mache das schon.«
    Ich hörte sie in der Küche hantieren. Sie war in großartiger Weise gütig und hilfsbereit. Dass sie immer noch sehr anziehend war, entdeckte ich ganz plötzlich an diesem Abend. Ich hatte sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen; deswegen fiel es mir auf, als sie mir heißen Tee brachte und mit dem Fuß auf den Schalter der Stehlampe trat. Das Licht fiel auf ihr dunkles Oval, auf die gewölbte Stirn, das eigenwillige Kinn. Die Augen waren mandelförmig und goldbraun, und der hohe Bogen der Wangenknochen gab ihnen außen eine leichte Schrägneigung nach oben. Nur die blauen Ringe unter diesen Augen verrieten den Herbst ihres Lebens. Sie hielt sich übertrieben gerade, immer, auch beim Sitzen. Sie war stark, mied jedoch gewisse Bewegungen, die ihr Schmerzen bereiteten. Unter Rheuma,
sagte sie, habe sie schon als Heranwachsende gelitten. Eine Folge der Entbehrungen damals.
    Sie hatte in Tibet harte Zeiten erlebt. Zeiten, von denen sie selten sprach. Im Großen und Ganzen kannte ich die Geschichte. Aber sobald ich - was gelegentlich vorkam - mehr erfahren wollte, verschanzte sie sich hinter einer Mauer aus Schweigen.
    »Was gibt es da noch zu erzählen?«
    »Du redest so wenig über diese Dinge! Macht dir das so viel Mühe?«
    »Es ist schon lange her. Ich habe vieles vergessen.«
    Vergessen? Das glaubte ich nicht. Verdrängt wäre wohl das bessere Wort gewesen. Aber ich wollte mich mit ihr nicht anlegen. Sie hatte den stärkeren Dickschädel.
    Sie hatte oft von den schwierigen Zeiten ihrer Kindheit gesprochen, von den schrecklichen Ereignissen damals. Mir kam in den Sinn, dass es stets nur nackte Ereignisse waren, über die sie berichtet hatte, bloße Tatsachen und allgemeine Gefahren, anderswo, in einem anderen Zeitalter, unter einem anderen Himmel. Elf war sie gewesen, als die Soldaten sie geholt hatten. Sie hatte uns alles ausführlich erzählt.
    Wirklich alles? Die Tatsache, dass sie nie wieder darüber sprach, war vielleicht der Kern der Geschichte. Das Fieber bewirkte, dass ich gewisse Bilder meiner Vorstellung schemenhaft und dann wieder überdeutlich sah. Die Bilder, die aus dem Nebel heraustraten, gefielen mir gar nicht. Ich mochte keine Schatten, die vor mir auftauchten, Schatten, die das Fieber verdichtete. Ich setzte mich auf.
    »Wie bringst du es fertig«, murmelte ich, »dass du immer noch so gut aussiehst?«
    Sie stellte das Tablett auf den Nachttisch, wobei sie kurz auflachte. Ihr Lachen hatte einen rauen Klang, etwas Jugendliches, als wäre sie schüchtern und bemühte sich, das zu verbergen.

    »Und meine Falten?«
    »Ich sehe keine.«
    »Weil du kurzsichtig bist. Ich, ich sehe meine Falten.«
    Sie reichte mir die Tasse. Ich nahm einen Schluck von dem heißen, starken Getränk.
    »Er ist gut, dein Tee!«
    »Ich habe viel Honig hineingetan. Und Zitrone. Das hilft bei Fieber.«
    Ich drückte die warme Tasse an meine Wange und beobachtete meine Mutter. Mir fiel auf, dass sie das nicht gern hatte, denn sie wandte die Augen ab. Vierzehn Jahre war es jetzt her, dass mein Vater gestorben war. Ich fragte: »Warum hast du eigentlich nie wieder geheiratet?«
    Sie stutzte, bevor sie den Mund zu einer kleinen Grimasse verzog. »Dumme Frage! Wie kommst du darauf?«
    »Na ja, es hätte ja sein können.«
    Sie wies mich zurecht.
    »Es konnte nicht sein, und jetzt hör davon auf.«
    Seit Vaters Tod hatte sie nie eine Affäre gehabt. Ich fand das seltsam. Aber diese Art von Treue musste ihr wohl eigen sein. Ich schämte mich plötzlich, dass ich gefragt hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
    Sie nickte.
    »Trink deinen Tee, bevor er kalt wird.«
    Sie wollte nicht lange bleiben, sie hatte noch eine Sitzung im Frauenverein. Aber sie nahm sich noch die Zeit, um für zwei Tage zu kochen: Suppe, Fleischbällchen und Kartoffeln. Bevor sie ging, stopfte sie die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und ermahnte mich, den Trockner nicht zu vergessen. Sie zog ihren Mantel an und wickelte ihren braunen Pashmina um die Schultern. Sie trug meistens tibetische Tracht, die ihr sehr gut stand.
    »Ich rufe dich morgen an. Bleib schön im Bett, und iss die Trauben.
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