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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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auch wenn sie viel lachen konnte, laut und unbändig wie ein ganz junges Mädchen. Sie hatte einen unglaublich derben, fremdartigen Humor. Man merkte daran, dass man sich vor ihr in Acht nehmen musste. Dass sie überaus anmaßend war, flößte mir eigentlich Respekt ein. Sie konnte aber auch gemein werden und mit Worten zuschlagen wie mit einer Pranke.
    Einmal hatte sie von Kelsang gesagt: »Der ist es nicht wert, dass man seinetwegen leidet.«
    Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum sie das sagte. Aber es hörte sich schrecklich an.
    Gelegentlich kam mir der Gedanke, dass sie gar nicht hierher gehörte. Ihre Anwesenheit war irgendwie unpassend, befremdend. Sie gehörte zu einer anderen Welt. Diese Frau, die meine Mutter war, schaffte es immer wieder, mich aus dem Konzept zu bringen. Mein Leben lang würde ich mich gegen ihre Überheblichkeit wehren, obwohl sie viele Freunde hatte, die ihr über viele Jahre hinweg treu blieben. Alle liebten ihre Tatkraft, ihre lebhafte, geschmeidige Intelligenz, ihre wortgewandte Klugheit. Sie hatte mich pflichtbewusst erzogen, hatte mir alles gesagt, was ich wissen musste, und mir alles erlaubt, was sie finanziell vermochte. Keine übertrieben modischen Klamotten, aber gute, aus dem Ausverkauf. Ferien, die wenig kosteten: Skilager, Jugendherbergen, Klassenreisen nach Paris oder Barcelona. Mutter hätte gewollt, dass ich reiten lernte. Als Kind in Lhasa hatte sie ihr eigenes Pferd gehabt. Ihre Eltern waren sehr wohlhabend gewesen. Aber sie konnte den Unterricht nicht bezahlen. Stattdessen bekam ich jeden Sommer eine Dauerkarte fürs Schwimmbad. Kein Luxus also. Dafür aber die höhere Schule, das Architekturstudium. Wir hatten
nur wenige Grundsatzdiskussionen geführt, aber sie hatte Selbstbewusstsein, Fantasie und Vernunft in mir geweckt. Tsering, mein Vater, hatte sich kaum eingemischt - eigentlich nur, wenn es darum ging, wie pünktlich ich zu sein hatte. Da war er strenger als sie, weil er schnell in Sorge geriet. Er war ein stiller Mensch, und es ging ihm nicht gut, schon lange nicht. Er hatte sich in Indien eine böse Geschwulst geholt und hielt es nicht für nötig, den Arzt aufzusuchen. Die Folge davon: Der Zustand verschlimmerte sich, der Tumor breitete sich aus, ergriff den ganzen Körper. Er ließ sich erst untersuchen, als die Schmerzen unerträglich wurden, und da war es bereits zu spät. Mit zunehmendem Alter setzte er der Krankheit immer weniger Widerstand entgegen. Er war ein manischer Kettenraucher, er konnte es sich nicht abgewöhnen. Bis zum Schluss rauchte er. Er sagte, ich bin eben so, ich kann mich nicht ändern - wozu auch? Ich hatte gerade die höhere Schule beendet, als sein Herz versagte. So verschieden wir drei auch waren, wir hatten einander geliebt. Ich war erschüttert, aber immerhin traf mich sein Ende nicht unvorbereitet. Mutter und ich trugen den Gedanken schon lange mit uns herum, dass er eines Tages nicht mehr da sein würde.
    Mutter - ihr Name war Sonam - hatte eine schwere Geburt mit mir gehabt. Etwas war bei ihr nicht in Ordnung gewesen. Die Ärztin entschloss sich noch rechtzeitig zu einem Kaiserschnitt, sonst wäre ich wohl behindert auf die Welt gekommen. Danach zog sie es vor, Sonams Eileiter zu unterbrechen. Die Patientin war ja auch schon beinahe vierzig. Somit blieb ich Einzelkind, was in tibetischen Familien eher unüblich ist.
    Dachte ich über mein Leben nach, was ich eigentlich selten tat, kam ich immer wieder zu dem Ergebnis, dass es ein geordnetes Leben war. Alles war auf Ordnung ausgerichtet; von klein auf deutete sich dies bereits in meinen Begabungen an. Schon als Kind hatte ich eine besondere Vorliebe für die Anordnung
von Gegenständen in Räumen. Dafür konnte ich mich ebenso begeistern wie für die Logik der Zahlen. Ich spielte mit Zahlen Pingpong, und ich gruppierte nach Herzenslust Linien, Flächen und geometrische Körper. Dass ich aufs Gymnasium ging und später zur Uni, hatte ich auch meiner Mutter zu verdanken, die als Kassiererin im Supermarkt Überstunden machte, damit ich lernen konnte. Dazu kam natürlich, dass ich nicht leicht auf mein Ziel, zu studieren, verzichtet hätte. Ich besaß einen starken Willen.
    Sie rief an: »Brauchst du etwas?«, und kam gegen Abend. Ich döste im Halbschlaf, als sie draußen zweimal schellte. Ich strich mein wirres Haar aus der Stirn und setzte meine Füße auf den tibetischen Teppich mit dem schönen blauen Muster. Als ich mich aufrichtete, musste ich mich am Nachttisch
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