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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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    PROLOG
     
    Viren sind ein integraler Bestandteil
der Grundstruktur allen Lebens.
    Luis P. Villarreal, The living and dead chemical called a virus [Die lebende und tote chemische Verbindung, die man Virus nennt] , 2005
     
    Aus meinem Hotelfenster blicke ich über den tiefen Gletschersee auf das Alpenvorland und die Berge. Als es dämmert, verschmelzen die Hügel mit dem Gebirge, dann verschwindet alles im Dunkeln.
    Nach dem Frühstück spaziere ich durch die gepflasterten Dorfstraßen. Es ist kein Frost mehr, und riesige Rosmarinbüsche strecken sich der Sonne entgegen. Ich nehme einen Weg, der sich die steilen, wilden Hügel hinaufwindet, an Schafherden vorbei. Hoch oben auf einem Felsvorsprung mache ich Rast und esse Brot und Käse. Später am Nachmittag entdecke ich am Ufer alte Tonscherben, deren Kanten von Zeit und Wasser glattgeschliffen wurden. Ich erfahre, dass im Dorf eine böse Grippe umgeht.
    Ein paar Tage verstreichen, dann folgt eine Nacht voll Fieberphantasien. Meine Träume werden durch das An- und Ablegen von Fähren gestört. Passagiere rufen in der Dunkelheit, schrecken mich aus dem Schlaf. Jedes Mal wenn ich wieder einschlafe, zerrt das Wassergeräusch des Sees an mir. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Körper. Alles fühlt sich verkehrt an.
    Am nächsten Morgen bin ich schwach und kann nicht denken. Einige meiner Muskeln gehorchen mir nicht. Mein Zeitgefühl wird schwammig. Ich verirre mich, die Straßen führen in zu viele Richtungen. Wie in einem Nebel ziehen die Tage an mir vorüber. Ich packe meinen Koffer, doch aus irgendeinem Grund kann ich ihn nicht hochheben. Er scheint am Boden festzukleben. Irgendwie gelange ich zum Flughafen. Während des Flugs über den Atlantik sitzt ein kranker Chirurg neben mir, er niest und hustet unaufhörlich. Mein ausnahmsweise genommener, dringend benötigter Urlaub ist nicht so verlaufen wie erhofft. Aber das wird schon alles wieder, ich will nur noch nach Hause.
    Nachdem ich in Boston umgestiegen bin, lande ich kurz vor Mitternacht auf meinem kleinen Flughafen in Neuengland. Als ich auf dem Parkplatz meinen Wagen aus dem Schnee ausgraben will und mich vorbeuge, wird die Schaufel zur Krücke, mit der ich mich aufrecht halte. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause komme. Am nächsten Morgen sinke ich direkt nach dem Aufstehen ohnmächtig zu Boden. Zehn Tage Fieber mit hämmernden Kopfschmerzen. Mehrmals in der Notaufnahme. Laboruntersuchungen. Ich bin so krank wie noch nie in meinem Leben. Die Lungenentzündung in meiner Kindheit, das Pfeiffersche Drüsenfieber in meiner Collegezeit – das alles war nichts im Vergleich zu dieser Krankheit.
    Ein paar Wochen später liege ich auf der Couch und sinke in eine tiefe Dunkelheit, falle und falle, bis ich unvorstellbar fern von allem bin. Ich schaffe es nicht mehr zurück, ich erreiche meinen Körper nicht. In der Ferne die Sirene eines Krankenwagens, die Stimmen von Ärzten. Meine Augenlider schwer wie Felsbrocken. Ich versuche, sie zu heben, nur für ein paar Sekunden, doch sie schließen sich unwillkürlich wieder. Das einzige, was ich noch tun kann, ist atmen.
    Die Ärzte werden mich wiederherstellen. Sie werden diesem Zustand ein Ende machen. Ich atme weiter. Was ist, wenn mein Atem stehenbleibt? Ich muss schlafen, aber ich habe Angst vor dem Schlafen. Ich versuche aufzupassen – wenn ich einschlafe, wache ich vielleicht nie wieder auf.

 
    ERSTER TEIL
     
    Die Veilchentopfabenteuer
     
    …ich möchte Sie bitten…, zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen.
    Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter , 1903

   1. Ackerveilchen
     
    Vor meinen Füßen
Wann bist du dorthin gelangt?
Du kleine Schnecke. Kobayashi Issa (1763–1827)
     
    In den ersten Frühlingstagen ging eine Freundin von mir im Wald spazieren und entdeckte zufällig auf dem Weg eine Schnecke. Sie hob sie auf und trug sie in der offenen Hand vorsichtig zu dem Studio, in dem ich zur Genesung untergebracht war. Am Rand des Rasens sah sie ein paar Ackerveilchen stehen. Mit einem Pflanzenheber grub sie einige davon aus, pflanzte sie in einen Terrakottatopf und setzte die Schnecke unter die Blätter. Dann brachte sie den Topf zu mir in die Wohnung und
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