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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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Worte jedes Mal, selbst mitten in der Nacht: «Das tut mir aber leid, dass es Ihnen nicht gut geht.» Wie selten erlebt man bei einem Arzt solche Empathie.
     
    Im Laufe der Wochen wurde die Schnecke auf ihren nächtlichen Streifzügen abenteuerlustiger, auch hinsichtlich ihrer Nahrung. Die Blüten, mit denen ich sie fütterte, reichten ihr ganz offensichtlich nicht. Eines Nachts fraß sie ein Stück des Etiketts auf einem Fläschchen Vitamin C. Ein andermal kroch sie an einer Pastellzeichnung hoch, die eine befreundete Künstlerin angefertigt hatte, und fraß einen Teil der grünen Einfassung. Und eines Morgens wachte ich auf und entdeckte ein Loch in einer gepolsterten Versandtasche.
    Immer häufiger unternahm die Schnecke mitten in der Nacht ausgedehnte Exkursionen in unbekanntes Terrain. Dann entdeckte ich sie an der Seitenwand der Kiste, manchmal schon fast auf dem Boden. Oft inspizierte sie die Worte, die mit Tinte auf das Holz gestempelt waren. Alles, was die Farbe von fetter dunkler Erde hatte, wie etwa die schwarze Beschriftung der Kiste oder der Lampenfuß, schien sie besonders zu interessieren. Genauso sehr zogen sie allerdings auch weiße Dinge an, Papier zum Beispiel. Vielleicht, dachte ich, ist Papier ihre hölzerne Version von Fastfood.
    Nachdem man sie dem Wald entrissen hatte, war die Schnecke in der fremden Umgebung meines Zimmers wieder aus ihrem Gehäuse gekrochen, ohne die geringste Ahnung, wo sie war oder wie sie dort hingekommen war; die fehlende Vegetation und die wüstenartige Umgebung müssen ihr seltsam erschienen sein. Die Schnecke und ich lebten beide in einer veränderten Landschaft, die wir uns nicht selbst ausgesucht hatten – ich stellte mir vor, dass wir ein Gefühl des Verlusts und der Heimatlosigkeit teilten.
     
    Jeden Morgen, bevor ich ganz wach war, gab es einen Moment, in dem mein Geist sich noch mühsam in den Zustand des Bewusstseins vortastete, meinen Körper noch nicht wahrnahm, die Realität noch nicht erfasste. Dieser Moment war von reiner, süßer, unkontrollierbarer Hoffnung erfüllt. Ich wünschte mir diese Hoffnung nicht herbei, ja ich wollte sie gar nicht, denn die Enttäuschung folgte ihr auf dem Fuß. Doch sie war da, waberte in meinem Innern – die Hoffnung, meine Krankheit sei über Nacht verschwunden und ich sei mit Tagesanbruch auf wundersame Weise wieder gesund geworden. Aber dieser Moment ging unweigerlich vorbei, meine Augen öffneten sich, und die Realität überschwemmte mich: Nichts hatte sich verändert.
    Dann fiel mir die Schnecke ein. Ich hielt Ausschau nach dem winzigen, erdfarbenen Wesen. Normalerweise lag sie schon wieder schlafend in ihrem Blumentopf, und ihre vertraute Gestalt erinnerte mich daran, dass ich nicht allein war. Tagsüber empfand ich das Absonderliche meiner Lage am schmerzlichsten: Ich war zu einer Zeit ans Bett gefesselt, in der meine Freunde und Altersgenossinnen an ihren Karrieren bastelten und Kinder großzogen. Doch die Tatsache, dass die Schnecke tagsüber schlief, eröffnete mir eine neue Sichtweise: Ich war nicht die einzige, die den Tag ruhend verbrachte. Die Schnecke schlief von Natur aus am Tag, selbst am sonnigsten Nachmittag. Ihre Gesellschaft tröstete mich und minderte mein Gefühl der Nutzlosigkeit.
    Abends gab es einen kurzen, aber befriedigenden Zeitraum, in dem ich wusste, dass der Rest der Menschenwelt bald, und sei es nur über Nacht, so wie ich sein Leben in der Horizontalen verbringen würde. Wenn gesunde Menschen zu Bett gehen, genießen sie das Privileg, in einen tiefen Schlaf zu sinken. Mein Schlaf hingegen war aufgrund meiner Krankheit durchlässig, und oft blieb er ganz aus. Wieder war die Schnecke meine Rettung. Während die restliche Welt ohne mich einschlief, wachte die Schnecke auf, als wäre diese, die dunkelste Zeit tatsächlich die beste Zeit zum Leben.
    Nachdem wir uns wochenlang rund um die Uhr Gesellschaft geleistet hatten, konnte an unserer Beziehung kein Zweifel mehr bestehen: Die Schnecke und ich lebten offiziell zusammen. Ich hing an ihr, das gebe ich zu. Ein bisschen hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil man sie ungefragt aus ihrem natürlichen Lebensraum genommen hatte, doch ich war nicht bereit, mich wieder von ihr zu trennen. Sie war ein willkommener neuer Lebensinhalt, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich mir sonst die Stunden hätte vertreiben sollen.

 
    ZWEITER TEIL
     
    Ein grünes Königreich
     
    Denk nicht daran, wieviel zu tun ist,
    welche Schwierigkeiten zu
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