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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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Lied begleitete uns, während wir mal hier, mal dort auf Steinen, die halb aus dem Wasser lugten, das Bachbett überquerten. Auf dem Rückweg fand ich an einer sehr sumpfigen Stelle auf kleinen Inseln aus Wurzelwerk und Moos winzige wilde Veilchen, weiß mit zartlila gestreiftem Kelch.
     
    Die Ackerveilchen an meinem Bett waren frisch und lebendig, im Gegensatz zu den sonst üblichen Schnittblumen, die andere Freunde mitbrachten. Die Schnittblumen hielten immer nur ein paar Tage, und sie hinterließen trübes, übelriechendes Wasser. In meinen Zwanzigern hatte ich mir mein Geld als Gärtnerin verdient, daher war ich froh, dieses kleine Stückchen Garten direkt neben meinem Bett zu haben. Ich konnte die Veilchen sogar mit meinem Wasserglas gießen.
    Aber was war nun mit der Schnecke? Was sollte ich mit ihr anfangen? So klein sie war, hatte sie doch friedlich vor sich hingelebt, als meine Freundin sie aufhob. Welches Recht hatten wir, in ihr Leben einzugreifen? Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, wie das Leben einer Schnecke überhaupt aussah.
    Ich erinnerte mich nicht daran, auf meinen zahllosen Spaziergängen im Wald je Schnecken gesehen zu haben. Vielleicht, dachte ich mit Blick auf das unscheinbare braune Tier, lag das an ihrem unauffälligen Äußeren. Den Rest des Tages blieb die Schnecke in ihrem Gehäuse, und ich war zu erschöpft von dem Besuch meiner Freundin, um noch einen weiteren Gedanken an meine Schnecke zu verschwenden.

   2. Entdeckung
     
    Die Schnecke steht auf
Und legt sich wieder schlafen
Ohne viel Trara.
    Kobayashi Issa (1763–1827)
     
    Um die Abendessenszeit stellte ich überrascht fest, dass die Schnecke halb aus ihrem Gehäuse gekommen war. Sie lebte also. Der sichtbare Teil ihres Körpers war fast fünf Zentimeter lang und feucht. Der Rest war in dem zweieinhalb Zentimeter hohen Schneckenhaus verborgen, das sie elegant auf dem Rücken balancierte. Ich sah zu, wie sie langsam an der Seite des Blumentopfs hinabkroch. Während sie dahinglitt, wedelte sie sanft mit den Fühlern.
    Den ganzen Abend lang erkundete die Schnecke die Außenwand des Topfes und den Untersetzer, in dem er stand. Ihr gemächliches Tempo faszinierte mich. Ich fragte mich, ob sie im Lauf der Nacht davonkriechen würde. Vielleicht würde ich sie nie mehr wiedersehen, und das Schneckenproblem würde sich in Wohlgefallen auflösen.
    Doch als ich am nächsten Morgen nachschaute, war die Schnecke wieder im Topf; in ihr Gehäuse zurückgezogen, schlief sie unter einem Veilchenblatt. Am Abend zuvor hatte ich einen Briefumschlag gegen den Lampenfuß gelehnt. Jetzt entdeckte ich direkt unter dem Absender ein rätselhaftes quadratisches Loch. Ich war verblüfft. Wie konnte über Nacht ein Loch – noch dazu ein quadratisches – in einem Umschlag erscheinen? Dann fielen mir die Schnecke und ihre Betriebsamkeit am Abend ein. Sie war offenkundig nachtaktiv. Und sie musste so etwas wie Zähne besitzen, die einzusetzen sie sich nicht scheute.
     
    Als gesunder Mensch hatte ich ein sehr aktives Leben geführt, das mit Freunden, Familie und Arbeit, mit den Freuden des Gärtnerns, Wanderns und Segelns und dem gewohnten Alltagstrott ausgefüllt war: Frühstück machen, den Wald erkunden, zur Arbeit fahren, ein Buch lesen, aufstehen, um etwas zu holen. Jetzt wäre schon Letzteres – aufzustehen, um irgendetwas, egal was, zu holen – eine echte Leistung gewesen. Für mich auf meinem Lager war das Leben außer Reichweite.
    Die Monate verstrichen, und es fiel mir zunehmend schwer, mir in Erinnerung zu rufen, warum die endlosen Details eines von Gesundheit geprägten Lebens und einer guten Arbeitsstelle so wichtig gewesen waren. Es war seltsam zu beobachten, dass meine Freunde ihr geschäftiges Leben kaum in den Griff bekamen, wo sie doch all das tun konnten, was ich nicht tun konnte, ohne einen Gedanken darauf verschwenden zu müssen.
    Hatte früher die Zukunft mit zahlreichen möglichen Marschrouten gelockt, gab es jetzt nur noch einen, jedoch nicht gangbaren Weg. Also wandten sich meine Gedanken stattdessen den reichhaltigen Sedimentschichten der Vergangenheit zu. Ein Windhauch, der durch das offene Fenster hereinkam, weckte die Erinnerung an eine Überquerung der Penobscot Bay auf dem Bugspriet eines Schoners. Der schlichte Wunsch, mir die Zähne zu putzen, führte mir das Badezimmer in meinem Bauernhaus mit seinem Ausblick auf die alten Apfelbäume und den Mohnblumengarten vor Augen. Es hatte mich heiter gestimmt, die über dem Mohn
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