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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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bewältigen sind oder
    welches Ziel erreicht werden soll, sondern
    widme dich gewissenhaft der kleinen Aufgabe,
    die gerade ansteht, und lass das für heute genügen.
    Sir William Osler, Mediziner (1849–1919)

  4 . Der Waldboden
     
    Ich habe mir ein Ziel gesetzt, ein bestimmter Stein,
aber es kann gut schon dämmern, bevor ich es
dorthin schaffe. …Falls ich wirklich den Stein erreiche,
werde ich mich dort für die Nacht in einen
bestimmten Spalt begeben.
    Elizabeth Bishop, Riesenschnecke , 1969
     
    Ungeachtet ihrer geringen Größe war die Schnecke eine furchtlose, unermüdliche Entdeckerin. Vielleicht suchte sie ja einen Weg zurück in ihren Wald, oder sie hoffte, irgendwo bessere Kost zu finden. Sie wusste instinktiv, wo ihre Grenzen lagen – wie weit sie in einer Nacht kriechen konnte, um morgens wieder zu Hause zu sein. Auf der trockenen Oberfläche der Kiste war der Veilchentopf eine Oase, wo sie Wasser, Futter und Obdach fand.
    Wenn sie loszog, die Fühler erwartungsvoll ausgestreckt, schien sie sich ihres Weges völlig sicher zu sein, als befände sich das, was sie suchte, nur fünf oder zehn Zentimeter weiter auf der Kiste. Sie dahingleiten zu sehen, war eine willkommene Ablenkung und zugleich eine Art Meditation; meine oft hektischen Gedanken beruhigten sich allmählich und passten sich dem ruhigen, sanften Rhythmus der Schnecke an. Mit ihrer geheimnisvollen, fließenden Bewegung war die Schnecke eine wahre Tai-Chi-Meisterin.
    Ich begann mir Gedanken darüber zu machen, wie weit die Schnecke nachts wohl kriechen würde, welche Schwierigkeiten ihr begegnen könnten und was sie auf ihrer Suche nach Essbarem Riskantes kosten mochte. Tinte, Pastellfarbe und Etikettenkleber schienen mir keine gute Schneckennahrung. Dazu fiel mir das Gedicht The Four Friends [Die vier Freunde] von A. A. Milne ein, das von einem Elefanten, einem Löwen, einer Ziege und einer kleinen Schnecke namens James handelte. «James stieß das Tosen einer Schnecke in Gefahr aus / doch keiner hörte ihn.» Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Schnecke tosen konnte – aber ich wollte es auch gar nicht herausfinden.
    Das Bed & Breakfast-Arrangement im Veilchentopf hatte eine Weile lang gut funktioniert, doch jetzt wollte ich, dass die Schnecke ein natürlicheres und sichereres Zuhause erhielt. Zu dem Studio, in dem ich untergebracht war, gehörte eine Scheune, und dort fand meine Pflegerin in einer dunklen Ecke ein leeres, rechteckiges Glasaquarium. Bald war es zu einem geräumigen Terrarium mit lebenden Pflanzen und anderem Material aus dem heimischen Wald der Schnecke geworden: Goldfaden – passend benannt nach seinen farbigen Wurzeln – mit den drei zarten pfotenförmigen Blättern hoch oben auf einem dünnen Stengel, Rebhuhnbeere mit ihren runden, dunkelgrünen Blättern und ihren monatelang haltenden kleinen roten Beeren, größere, wächserne Blätter vom Wintergrünstrauch, viele Sorten Moos, Tüpfelfarn, eine winzige Fichte, ein modernder Birkenast sowie ein Stück alte Baumrinde, das von vielfarbigen Flechten überzogen war.
    Möwen, die ins Landesinnere fliegen, lassen manchmal Muscheln fallen, und im Wald findet man gelegentlich die leeren blauen Schalen im Moos. Solch eine Muschel mit ihrem silbrigen Innern diente jetzt als natürliches Becken für frisches Trinkwasser. Mit einem alten Blatt hier und ein paar Fichtennadeln dort sah das Terrarium aus, als hätte man ein Stück Waldboden mitsamt dem ganzen natürlichen Durcheinander einfach aufgehoben und ins Terrarium versetzt. Die üppig-feuchte Lebendigkeit der Pflanzen erinnerte mich an den Wald nach einem starken Regen. Es war die richtige Welt für eine Schnecke und für mich eine Augenweide.
    Kaum befand sich die Schnecke in diesem vielfältigen neuen Reich, kam sie aus ihrem Gehäuse hervor. Die Fühler in leichter Bewegung, zog sie neugierig los, um das neue Terrain zu erkunden. Sie kroch den toten Ast entlang, trank Wasser aus der Muschel, inspizierte die diversen Moose, kroch die Glaswand des Terrariums hinauf, und dann suchte sie sich ein dunkles, verstecktes Schlafplätzchen im Moos.
    Während die Schnecke schlief, erkundete ich meinerseits vom Bett aus das Terrarium, ließ den Blick über die kleinen Hügel und Täler dieser frischen grünen Landschaft schweifen. Die Verschiedenheit der Moose hatte etwas Befriedigendes, von tiefer, fedriger Weichheit bis hin zu festen Hügeln mit pelzig-samtiger Oberfläche. Farblich reichten sie von leuchtendem
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