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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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sie gelassen dahinkroch, und ich sah ihr gerne zu, wenn sie aus der Muschel trank. Ich hatte mehrmals das Glück, zu sehen, wie sie sich putzte: Sie reckte den Hals nach hinten über ihr Gehäuse und säuberte dessen Rand sorgfältig mit dem Mund, wie eine Katze, die ihr Nackenfell leckt. Die Schnecke schlief meistens auf der Seite, und mit den feinen Streifen, die senkrecht zu den spiralförmigen Windungen ihres Gehäuses verliefen, erinnerte sie mich an meinen alten getigerten Kater Zephyr, wenn er sich für ein Nickerchen zusammengerollt hatte.
    Ein Buch zu halten und zu lesen, egal wie lange, erforderte ein Maß an Kraft und Konzentration, das meine Möglichkeiten überstieg; meine Schnecke zu beobachten hingegen war äußerst entspannend. Ich sah ihr zu, ohne zu denken, schaute einfach in das Terrarium, um mich mit einem anderen Lebewesen verbunden zu fühlen – kaum zehn Zentimeter von mir entfernt vollzog sich ein anderes Leben.
    Obwohl die Schnecke und ich unsere festen Gewohnheiten hatten, wussten wir beide doch auch Abenteuer zu schätzen. Wenn Freunde oder Verwandte zu Besuch kamen und etwas Neues für das Terrarium mitbrachten, war die Schnecke immer fasziniert. Ob es ein halb vermoderter, von Flechten überzogener Ast war, ein Stück Birkenrinde, ein Ballen Moos einer anderen Art oder vielleicht auch ein Salatblatt oder eine Gurkenscheibe, die Schnecke nahm die Gaben mit bebenden Fühlern entgegen. Nach ausgiebiger, sorgfältiger Prüfung kostete sie dann alles, was ihr essbar schien.
    Mir wiederum forderten meine Abenteuer etwas mehr ab. Nachdem ich wochenlang das Bett in meinem Zimmer nicht verlassen hatte, war ein Arztbesuch ein gewaltiges Unterfangen. Ich wurde liegend im Auto transportiert, und angesichts meines normalerweise fast bewegungslosen Lebens war es erstaunlich, die Baumwipfel über mir in atemberaubender Geschwindigkeit vorbeisausen zu sehen.
    Man schob mich ins Wartezimmer, wo ich mich von still wartenden Patienten umgeben sah. Jeder von uns war von seinem eigenen fernen Krankheitsplaneten gekommen. Obwohl wir uns nicht kannten, wurden wir sofort zu stummen Gefährten. Wir waren aus dem gleichen Grund hier: um dem Arzt unsere fremdartige Erfahrung zu schildern, in der Hoffnung, dass er unser Weiterleben erleichtere. Mit anderen Patienten zusammensein zu können, rührte mich sehr an; trotz unserer jeweils eigenen Leiden trugen wir alle die Bürde der Krankheit. Doch selbst hier war meine Teilhabe begrenzt, denn ich war zu schwach, um länger als ein paar Minuten aufrecht zu sitzen. So schnell wie möglich brachte man mich in ein Untersuchungszimmer, damit ich im Liegen warten konnte.
    Zwar konnte ich mich bei diesen gelegentlichen Ausflügen hinten im Auto ausstrecken, doch gab es nur wenige Ziele, die für mich in Frage kamen. Büros, Galerien, Büchereien und Kinos sind nicht für liegende Menschen konzipiert. Das interessanteste Abenteuer war für mich, wenn mein Fahrer noch etwas zu erledigen hatte und ich auf irgendeinem Parkplatz hinten im Wagen liegen und meinen Mitmenschen dabei zusehen konnte, wie sie rastlos ihren Geschäften nachgingen. Es gab mir ein Gefühl von Zugehörigkeit und Zufriedenheit, doch gleichzeitig führte es mir sehr deutlich vor Augen, dass ich von den grundlegendsten Aktivitäten des Lebens abgeschnitten war.

  6 . Zeit und Raum
     
    Die Geschwindigkeit der Kranken jedoch
gleicht der einer Schnecke.
    Emily Dickinson in einem Brief an Charles H. Clark, April 1886
     
    Jeweils nur ein paar Zentimeter von meinem Bett und voneinander entfernt standen das Terrarium und ein Wecker. Während das Leben im Terrarium blühte und gedieh, tickte Sekunde um Sekunde dahin. Doch das Verhältnis zwischen Zeit und Schnecke verwirrte mich. Die Schnecke kroch durch das Terrarium, während sich die Zeiger des Weckers kaum bewegten – oft kam es mir vor, als wäre die Schnecke schneller als die Zeit. Dann wieder war ich in die Beobachtung der Schnecke versunken und stellte plötzlich fest, dass die Zeit verflogen war, ohne dass ich es bemerkt hatte. Und wie war das mit den Farnwedeln, die sich entrollten? Die Bewegung war unmerklich und führte doch langsam, aber sicher zum Ziel.
    Obwohl der Berg von Dingen, die ich meinte tun zu müssen, bis zum Himmel reichte, konnte ich nur sehr wenig ausrichten, aber die Zeit schleppte mich einfach weiter mit. Wir sind alle Geiseln der Zeit. Jeder von uns hat im Laufe eines Tages dieselbe Anzahl von Minuten und Stunden zur Verfügung,
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