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Geräusch einer Schnecke beim Essen

Geräusch einer Schnecke beim Essen

Titel: Geräusch einer Schnecke beim Essen
Autoren: E Tova Bailey
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Grasgrün bis hin zu einem tiefen Dunkelgrün, von grellem Zitronengrün bis zu einem hellen Blaugrün. Tüpfelfarne neigten sanft ihre schönen, bis zu zehn Zentimeter langen Wedel, die ganz jungen Wedel noch fest eingerollt. Im Wald bei mir zu Hause wachsen diese Farne entlang des Baches auf den steil abfallenden Seiten von Granitblöcken. Sie überleben auf schmalen Felsstreifen, wo die Luft feucht und von der Energie des Baches erfüllt ist, ihre Rhizome finden Nahrung in den Spalten und Rissen im Fels. Im Winter unter Schnee und Eis begraben, senden sie im Frühling jedes Jahr wie durch ein Wunder neue Sprosse empor – mit urzeitlicher Beharrlichkeit.
    Das neue Terrarium neben meinem Bett war schon für sich allein schön, ein grünes, wachsendes Ökosystem; dass es außerdem eine großartige Kulisse für die bescheidene braune Schnecke abgab, war umso besser. Zwar vermisste die Schnecke bestimmt weiterhin ihren vertrauten Wald, doch war das Terrarium zumindest ein komfortablerer und natürlicherer Lebensraum als der Blumentopf. Im Terrarium würde die Schnecke sicher sein, sicherer als in der freien Natur, denn hier gab es keine vom Himmel herabstoßenden oder hinter einem Blatt lauernden Räuber.
    Ich setzte meine Schneckenbeobachtungen fort, und jetzt wollte ich mehr darüber erfahren, wie ich gut für meine kleine Gefährtin sorgen konnte. Meine Pflegerin trieb ein jahrzehntealtes Taschenbuch namens Odd Pets [Seltsame Haustiere] von Dorothy Hogner auf. Neben grundlegenden Informationen über Schnecken fand sich darin auch der Rat, sie mit Pilzen zu füttern.
    Im Kühlschrank in der Küche lagen frische Zuchtchampignons. Ein einzelner Champignon war ungefähr fünfzigmal so groß wie meine Schnecke, also schnitt meine Pflegerin eine großzügige Scheibe von einem der Pilze ab und legte sie ins Terrarium. Die Schnecke war begeistert. Nach Wochen mit nichts als welken Blüten war sie so froh über diese vertraute Nahrung, dass sie mehrere Tage lang direkt neben der riesigen Champignonscheibe schlief, wobei sie immer mal wieder kurz erwachte, ein wenig am Pilz knabberte und wieder in wohlgenährten Schlaf sank. Über Nacht verschwand dann jedes Mal eine erstaunlich große Portion Champignon, bis nach einer Woche schließlich nichts mehr davon übrig war.

  5 . Leben in einem Mikrokosmos
     
    …noch ist unter den Dingen
und bei den Tieren alles voll Geschehen,
daran Sie teilnehmen dürfen.
    Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter , 1903
     
    Die Schnecke verzehrte jede Woche eine ganze Scheibe Champignon. Mir fiel auf, dass sie beim Fressen sanft mit dem Kopf nickte. Ob das bedeutete, dass sie mit ihrer Mahlzeit zufrieden war? Als ich den Rest des Champignons inspizierte, entdeckte ich Bissspuren – ganz feine vertikale Furchen, wie von einem winzigen Kamm.
    Was die Gesellschaft der Schnecke so unterhaltsam machte, war nicht zuletzt die Tatsache, dass sie sich immer wieder neue Schlafplätze suchte. Im Terrarium war ein ständiges Versteckspiel im Gange. Die Schnecke verschmolz regelrecht mit der Vegetation, so dass ich sie in ihrem neusten Versteck jedes Mal erst aufspüren musste. An bedeckten oder regnerischen Tagen war sie wach und aktiv, und ich staunte, wie schnell sie sich fortbewegte. Gerade hatte ich sie noch irgendwo gesehen, dann schweiften meine Gedanken ab, und schon musste ich wieder das ganze Terrarium nach ihr absuchen.
    Die Schnecke schien sich über alle Regeln der Physik hinwegzusetzen. Sie kroch über die Spitzen des Mooses, ohne dass sie sich bogen, und konnte einen Farnstengel senkrecht hinauf- und dann an der Unterseite des Wedels kopfüber weiterkriechen. Ihr geringes Gewicht zog den Farn bogenförmig nach unten, doch das beeindruckte die Schnecke überhaupt nicht, sie fühlte sich in jeglicher Position, in jeder Höhe und jedem Neigungswinkel wohl. Auch ihre Balance war perfekt. Sie konnte auf dem Rand der Muschel sitzen und sich aus dieser wackeligen Position ganz entspannt ins Leere vorstrecken und vom Pilz fressen, ohne herunterzufallen oder Wasser aus der Muschel zu verspritzen. Keine Herausforderung war ihr zu groß: Wenn die Schnecke auf ein Hindernis stieß, einen Ast zum Beispiel, untersuchte sie ihn kurz und kletterte dann einfach über ihn hinweg, statt den längeren Weg außen herum zu nehmen. Morgens glitzerten im Terrarium immer die silbrigen Spuren ihrer nächtlichen Wanderungen.
    Mir gefiel die Eleganz, mit der die Schnecke ihre Fühler bewegte, während
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