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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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hätte sie ahnen können, dass du und ich … uns wiedersehen würden?«
    Er antwortete nachdenklich: »Ja, das wird wohl der Grund dafür sein, dass sie mich nicht in der Familie haben wollte. Wahrscheinlich gab es noch andere Gründe. Aber das war der erste und wichtigste wahre Grund. Sie hatte Angst vor mir.«
    Ein langes Schweigen folgte, bevor er auf die Uhr sah, mit der Bemerkung, dass er jetzt gehen müsse. Er würde anrufen, um sich zu erkundigen, wie es mir ging. Ich brachte ihn zur Tür, taumelte zurück ins Schlafzimmer, warf mich aufs Bett, kuschelte mich in das Kissen. Es war, als berste meine Stirn. In meinem Kopf kreisten die Gedanken. Ich hatte stets geahnt, dass da etwas war, tief auf dem Grund, etwas, das ich nicht begreifen konnte. Es war ein schlimmes Geheimnis, ein Hort der Unsicherheit. Sonams Schweigen war so, als diente es dazu, noch andere Geheimnisse vor mir zu verbergen. Ich musste mich damit abfinden, dass plötzlich Gespenster vor mir auftauchten.
Vor mir, hinter meinem Rücken, durch die Glasscheibe, durch den Türspalt, durch das Schlüsselloch. Und ich zitterte im Bett vor Fieber, Angst und Übelkeit. Ich tauchte zurück in den Nebel, versuchte zu vergessen, was ich niemals vergessen würde. Ich schlief ein und träumte von meiner Mutter. Ihr Gesicht war ein anderes, ein wildes und märchenhaftes. Die Augen leuchteten wie die Augen einer Katze, die Haare waren zerrauft, die Lippen rot. Ihre Arme waren in Schnüren gefesselt, sie hatte schwarze Farbe auf der Haut, und ihr Hals steckte in einer Schlinge. Oder trug sie eine Kette, die so gelb leuchtete wie ihre Augen? Im Traum betrachtete ich sie voller Mitleid und Ekel. Und während ich sie betrachtete, verzerrte sich ihr Gesicht. Ihre Schultern und ihre nackten Brüste waren braun, hager und von pulsierenden Adern durchzogen. Sie lachte keuchend und wild, spie vor mir aus, und ein Faden Blut floss ihr aus dem Mund.

DRITTES KAPITEL
    D ie Medikamente enthielten irgendein Beruhigungsmittel. Das Triebwerk meiner Träume ließ sich nicht wieder in Gang setzen. Die unheimlichen Bilder verblassten und kehrten nicht wieder. Ich schlief morgens lange, schlief sogar nachmittags, und zwei Tage später war auch das Fieber gesunken. Als Sonam anrief und fragte, wie es mir ging, sagte ich ganz ruhig: »Doch, mir geht es wieder gut.« Ich sprach zu ihr mit leichter Verdrossenheit, wusste noch nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Die Gedanken schmerzten. Das Gespräch mit ihr bereitete mir kein Entsetzen mehr, nur Kummer. Mein dumpfer Kopf ertrug mit Mühe die Tatsache, dass es ein Problem gab. Die Leichtigkeit, mit der ich für gewöhnlich die Dinge vereinfachte, war mir nur eine geringe Hilfe. Was ich verspürte, war ein Verlust, und ich hatte keine Ahnung, welchen Weg ich einschlagen sollte.
    Am Dienstag war ich wieder in der Firma. Ich brauchte jetzt die Arbeit, sie war mir unentbehrlich, um Ordnung in meine Gefühle zu bringen. Sasha, mit dem ich das Büro teilte, saß bereits an seinem Bildschirm und blickte mich durch seine wie üblich verschmierten Brillengläser an.
    »Fühlst du dich besser?«
    »Der Husten ist weg, das Fieber auch. Ich bin nur noch etwas wackelig auf den Beinen.«
    »Du hättest Felix heiraten sollen«, sagte er in vorwurfsvollem Ton.
    Ich wandte die Augen ab.

    »Komm, fang nicht wieder davon an!«
    Danach sprachen wir nur noch von der Arbeit.
    Es war halb acht, als ich das Atelier verließ und mit der Straßenbahn nach Hause fuhr. Ich kaufte mir einen Nudelsalat mit Curry, aß zwei Orangen und ließ mir ein heißes Bad einlaufen. Dann nahm ich die letzte Tablette, die Felix mir gegeben hatte. Ich suchte nichts mehr, womit ich meine Einbildungskraft hätte beschäftigen können, und schlief gleich ein. Am nächsten Morgen rief ich meine Freundin Chimie an.
    Wir verabredeten uns in einer Sushi-Bar, in der Nähe des Bellevue-Platzes. Chimie war wie ich in der Schweiz geboren. Sie hatte zwei Jahre in Tokio verbracht und arbeitete für eine japanische Handelsfirma. Ihr Beruf verlangte, dass sie sich klassisch anzog, dunkle Hosenanzüge und schmucklose Blazer, die ihr etwas Strenges gaben. Traf ich sie in der Freizeit, ungeschminkt, in Jeans und T-Shirt, schien sie eine ganz andere Frau zu sein. Sie war vier Jahre älter als ich, hatte aber noch viel von einer Jugendlichen. Ich liebte ihre beiden Gesichter. Das eine war ihr Privatgesicht; das andere trug sie wie ihre Berufskleidung. Und beide gehörten zu ihr. Chimie war viel
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