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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin
Autoren: Federica Cesco
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einfach meinen Dickschädel‹, sagt Sonam.«

    »Erzählt sie auch Einzelheiten?«
    »Sie bekamen kaum zu essen, schliefen in einem zerschlissenen Zelt, wurden geschlagen und misshandelt. Kelsang gelang als Erstem die Flucht. Später schaffte es auch Sonam.«
    »Warum ist sie nicht mit ihrem Bruder geflohen?«
    »Ich weiß es nicht. Jedenfalls erreichten beide die indische Grenze, und das Rote Kreuz brachte sie wieder zusammen.«
    »Und die ältere Schwester?«
    »Lhamo? Die blieb im Lager. Ich weiß von der Amla, dass sie dort einen Mann kennengelernt hatte. Einen Chinesen, den sie später heiratete. Mir kommt das seltsam vor. Sie hatte wahrscheinlich nicht gewagt, zu fliehen. Wer ausriss und wieder eingefangen wurde, musste mit furchtbaren Strafen rechnen.«
    »Die Vernichtung des Selbst ist etwas, was wir nicht verstehen können«, sagte Chimie leise. »Es waren entsetzliche Zeiten. Und auch heute noch …«
    Sie stockte, bevor sie nachdenklich hinzufügte: »Weißt du, ich habe das Gefühl, dass Sonam dir nicht alles gesagt hat.«
    Ich trank einen Schluck grünen Tee; ich trank ihn zu schnell und verbrannte mir die Zunge.
    »Wenn das stimmt, möchte ich gern wissen, warum.«
    »Vielleicht, weil alles zu schrecklich war. Oder auch, weil sie sich schämt. Weil sie befürchtet, dass du dich vor ihr ekeln würdest. Es ist eine Sache der Selbstachtung, einer übertriebenen zwar, aber so ist es nun einmal.«
    Ich sagte: »Kelsang deutete an, dass er haarsträubende Sachen erlebt hat. Ich könnte mir denken, dass er sich schuldig fühlt.«
    »Schuldig? Aber warum denn?«
    »Weil er in Lhasa eine chinesische Schule besuchte, wo sein politisches Weltbild geformt wurde. Es gab eine klare Trennungslinie: auf der einen Seite die Guten - die Kommunisten -, auf der anderen die Bösen - die Ausbeuter des Volkes.
Und folglich gehörte Kelsang dazu und musste schleunigst umdenken. Je radikaler solche Gedanken vorgebracht werden, desto stärker prägen sie ein Kind.«
    Chimie nickte.
    »Junge Menschen empfangen solche Worte mit Begeisterung. Ja, ja, wir wollen zu den Guten gehören! Laute Zustimmung, aber nicht das geringste Verständnis. Und dann richten sie den größten Unfug an und erkennen zu spät, womit sie es zu tun haben. Wurde Kelsang deswegen Mönch?«
    »Wegen der Schuldgefühle?«
    »Genau das meine ich.«
    Fremde, dachte ich. Fremde in der eigenen Familie.
    »Ja, das mag schon sein«, erwiderte ich matt.
    »Frag ihn doch mal, bevor du mit deiner Mutter redest. Aber sachte, versprich mir das! Weil er dir ja nie etwas gesagt hat …«
    »Vielleicht, weil ich ein Trampeltier bin?«
    Sie lächelte.
    »Deswegen warne ich dich ja.«

VIERTES KAPITEL
    D as bevorstehende Gespräch erfüllte mich mit Unbehagen. Ich zögerte ein paar Tage, verschob den Entschluss immer wieder auf morgen, bis ich mir feige und erbärmlich vorkam und im Kloster anrief. Kelsang hatte keinen Telefonanschluss. Er wollte keinen. Ich rief bei der Verwaltung an und ließ ihm ausrichten, dass ich ihn sprechen wollte. Es dauerte eine Weile, bis er zum Empfang kam und sich meldete. Er hatte diesen metallischen, kurz angebundenen Tonfall, den er wie zur Defensive immer vor sich hielt.
    »Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe. Ich bereite gerade ein Examen vor.«
    »Ach, Onkel Kelsang, ich bitte dich! Ich muss unbedingt mit dir reden.«
    »Ist etwas vorgefallen?«
    Seine Stimme wurde weich. Wenn er diese weiche Stimme hatte, mochte ich ihn.
    »Nein, eigentlich nicht. Oder doch - ja. Ich habe ein Problem mit Amla …«
    Kurze Stille. Ich hörte, wie er laut atmete.
    »Geht es ihr nicht gut?«
    »Ich weiß nicht, was los ist, Onkel Kelsang. Bitte, lass mich nicht im Stich.«
    Stille. Dann, nach ein paar Augenblicken widerstrebensten Zögerns: »Samstag um elf, geht das bei dir?«
    Ich dankte ihm und fühlte, wie mein Herz klopfte. Aber kaum hatte ich mein Handy ausgeschaltet, fühlte ich mich
schon ruhiger. Ich wusste nicht, ob ich jemals bis zur Wahrheit würde vordringen können, aber ich wollte auf sie zugehen.
    Von Zürich nach Winterthur fuhr ich auf der Autobahn, durch die wohlgeordnete Schweizer Landschaft mit ihren kleinen Auswüchsen einer rebellischen Subkultur, die sich in Graffiti auf Betonwänden und Baustellen Luft machte. Der Protest zeigte wenig Kreativität, die alternative Szene war mickrig. Nach Winterthur verließ ich die Autobahn. In den Ortschaften längs der Landstraße waren früher die ersten Exiltibeter aufgenommen worden, hatten in
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